StartseiteMagazinGesundheitPolitik, Gesundheitswesen und Krankenkassen stehen in der Pflicht

Politik, Gesundheitswesen und Krankenkassen stehen in der Pflicht

Wir haben ein qualitativ hochstehendes Gesundheitswesen. Dies hat aber auch seinen Preis, welcher der Bevölkerung mehr denn je Sorge bereitet. Seniorweb befragte den ehemaligen Krankenkassenprofi Jodok Wyer (Bild) zum Dauerbrenner Kostenexplosion im Gesundheitswesen. 

Es ist Fakt, dass die Krankenkassenprämien 2024 so stark steigen, wie seit über zehn Jahren nicht mehr – im Schnitt um 8,7%. Grund sind markant höhere Gesundheitskosten und weitere Faktoren. Die Krankenkassen können angeblich infolge gesunkener Reserven den Anstieg nicht dämpfen. Die mittlere Monatsprämie steigt gemäss Bundesamt für Gesundheit (BAG) somit im kommenden Jahr um 28,70 Franken auf 359,50 Franken. Es ist der grösste Anstieg seit 2010. Zusammen mit der allgemeinen Teuerung wird die Prämienbelastung für viele Menschen, auch für die Generation 65+, zu einem immer grösseren Problem. Wie man lesen konnte, belastete das Gesundheitswesen unsere Volkswirtschaft im letzten Jahr mit 88 Milliarden Franken oder 12 Prozent des Bruttoinlandprodukts.

Es versteht sich, dass Bundesrat, Parlament und Kantone in der Kritik stehen, weil das Sparpotenzial angeblich nicht ausgenutzt wurde. Immerhin, in der zwölfjährigen Amtszeit von Gesundheitsminister Alain Berset sind aber auch namhafte Einsparungen, die im alleinigen Kompetenzbereich des Bundesrats lagen, realisiert worden: etwa 1,2 Milliarden  Franken bei den Medikamenten, 500 Millionen im Ärztetarifsystem Tarmed, 200 Millionen bei den Labortarifen, jüngst auch 250 Millionen bei den Generikapreisen. Aber grundlegende Reformen im System, die Gesetzesänderungen erfordern, sind im Parlament am Widerstand der «Lobby-Ratsmitglieder» der Pharma weitgehend gescheitert. Nach wie vor liegen jedoch zielführende Lösungen zu zentralen Problemen des Gesundheitswesens entscheidungsbereit auf dem Tisch.

Das Potenzial wäre gross: Man könnte die Qualität der Versorgung verbessern und falsche Anreize beseitigen, mittelfristig das Kostenwachstum bremsen sowie die Prämienbelastung senken. Der Vorschläge gibt es genügend. Kürzlich verwies beispielsweise auch Thomas Harnischberg, CEO der KPT-Versicherung, auf die zwingend notwendige Reform des Schweizer Gesundheitssystem hin. Zu Diskussionen führte vor allem sein Vorschlag bezüglich der Einführung einer einkommensabhängigen Franchise.

In der kommenden Legislatur wird das Gesundheitswesen im Bundesrat in neue Hände kommen. Auch im Parlament gibt es neue Köpfe. Es ist zwingend notwendig, dass der neue Gesundheitsminister oder Gesundheitsministerin und das neugewählte Parlament in der Pflicht stehen. Es darf nicht mehr sein, dass wiederum verschiedene Interessengruppen angedachte zielführende Reformen blockieren. Auch die Frage bezüglich Schaffung einer Einheitskrankenkasse ist immer wieder ein Thema.

In einem Gespräch mit Jodok Wyer, einem Krankenkassenprofi im Ruhestand, der 12 Jahre VR Präsident der CSS, der grössten Schweizer Kasse, als Verwaltungsratspräsident vorstand, erörterten wir den Dauerbrenner der Kostenexplosion im Gesundheitswesen, die Konsequenzen auf die Krankenkassenprämien und der damit besonders im Wahlkampf 2023 hervorgehobenen Möglichkeiten zur Lösungsfindung.

Herr Jodok Wyer, wie steht es derzeit hinsichtlich Kostenexplosion im Gesundheitswesen?

Die Gesundheitsausgaben steigen weiter. Die Konjunkturforschungsstelle der ETH (KOF) rechnet damit, dass diese 2023 rund 92 Milliarden Franken betragen. Das sind 4.1 Prozent mehr als noch im Vorjahr. Auch für die kommenden beiden Jahre erwartet die KOF jeweils eine Steigerung von über 3 Prozent. Ein Jahr später werden somit wohl 100 Milliarden erreicht. Der Voranschlag 2023 der Eidgenossenschaft sah im Vergleich Einnahmen von 80,269 Milliarden und Ausgaben von 76,624 Milliarden vor. Mindestens dieser Vergleich sollte die für diese Kostenentwicklung Verantwortlichen beeindrucken.

Wäre nicht die Schaffung eine Einheitskrankenkasse das Allerheilmittel?

Es ist fahrlässig, sich nur einseitig mit dieser Kostenentwicklung, deren Hauptgrund die Entwicklung der Leistungskosten ist, auseinanderzusetzen. Das Schweizer Stimmvolk hat die Idee einer staatlichen Einheitskasse mehrmals abgelehnt. Zuletzt wurde die Initiative für eine öffentliche Krankenkasse am 28. September 2014 mit 61.8% Neinstimmen deutlich verworfen. Damit hält die Bevölkerung weiterhin klar am wettbewerblichen und solidarisch finanzierten Gesundheitswesen fest. Im Herbst 2017 wurde in der Romandie eine Volksinitiative lanciert, um kantonale Einheitskassen zu ermöglichen. Die Initiative scheiterte letztlich an einer ungenügenden Anzahl Unterschriften. Eine identische Vorlage lancierte 2020 der Kanton Neuenburg in Form einer Standesinitiative. Eine Neuauflage der kantonalen Einheitskasse wurde vom Parlament jedoch abermals abgelehnt.

Politik und Wahlvolk und damit die Versicherten sind also nicht für diesen Schritt bereit?

Sowohl die Bevölkerung wie auch das Parlament vertrauen aus meiner Sicht auf das heutige System, das sich seit Einführung des Krankenversicherungsgesetzes im Jahre 1996 etabliert hat. Und dieses Gesetz ist sonnenklar: Medizinische Leistungen müssen wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein. Alle anderen Leistungen deckt das KVG nicht ab. Die Anwendung dieser Gesetzesbestimmung tut in unserem Wohlfühl-Gesundheitswesen nicht nur auf Bundes -und Kantonsebene, sondern auch bei den privaten Leistungsträgern not.

Mit einer Einheitskrankenkasse könnte man doch Kosten senken zu Gunsten der Versicherten? 

Keinesfalls. In einer Monopolkasse ohne Wettbewerb ist davon auszugehen, dass die Verwaltungskosten massiv zunehmen. Weiter wird mit einer Einheitskasse das Ziel verfolgt, die Reserven massiv zu kürzen, was die finanzielle Stabilität der Gesundheitsinstitutionen schon bei kleineren Fehleinschätzungen der Kostenentwicklung gefährdet. Eine solche finanzielle Schieflage könnte schlussendlich nur über massive Prämienerhöhungen oder über Steuergelder korrigiert werden.

Eine Verstaatlichung der Krankenkasse ist also kein Weg?

Die Institution einer staatlichen Kasse würde eine einheitliche, unkontrollierte Prämie für alle Versicherten in einem Kanton festlegen. Den bisherigen Krankenversicherern käme nur noch die Rolle zu, die Rechnungen zu kontrollieren und zu bezahlen. Damit würden wir das Versicherungsprinzip verlassen. Der heute regulierte Wettbewerb zwischen den Krankenversicherern führte mitunter zu einer hohen Qualität und effizienten Rechnungskontrolle, die unnötig erbrachte Leistungen zugunsten der Prämienzahlenden einspart. Eine Verstaatlichung der Versicherungsprämien, auf welcher Ebene auch, ist der erste Schritt zu einer totalen Verstaatlichung des Gesundheitswesens. Wer sachlich und zukunftsgerichtet überlegt, lehnt sowohl eine gesamtschweizerische als auch regionale oder kantonale Einheitskassen ab.

Es bleibt somit, wie es ist: ein breigefächertes Angebot an Versicherer?

Die Grundidee des Versicherungswesens im Gesundheitswesen besteht in der Vereinigung vieler von den gleichen Gesundheitsschädigungsmöglichkeiten. Und zwar zur gemeinsamen Tragung von den im Einzelfall eingetretenen Gesundheitsschäden. Dieses System wird von den mit einer unbestimmten Vielzahl von Personen (Versicherungsnehmern) abgeschlossenen Versicherungsverträgen garantiert, die für die Übernahme des Schutzes eine monatlich wiederkehrende Prämie zu zahlen haben.

Die Wahl der passenden Krankenkassen ist für die Versicherungsnehmende in jedem Falle ein Vorteil?

Versicherte können sich heute zusätzlich für eine Vielzahl an innovativen Angeboten entscheiden und profitieren bei einer Wahl eines alternativen Versicherungsmodells von Prämienrabatten. In einem System mit Einheitskasse verlieren die Versicherten diese Wahlfreiheit und damit die vom Gesetz vorgesehene Möglichkeit, die Krankenversicherung zu wechseln. Bei einer «kantonalen Kasse» könnte man nur noch zwischen den Abrechnungsstellen wechseln, nicht aber die kantonale Kasse – beispielsweise dann, wenn diese schlecht wirtschaftet und die Prämien stark steigen. Die Gefahr eines noch verstärkten Kostenwachstums droht gerade bei einer kantonalen Einheitskasse. Denn einerseits hat sie keinen Anreiz, attraktive Prämien anzubieten und anderseits profitieren die im Leitungsgremium vertretenen Leistungserbringer von hohen Tarifen.

Was verstehen Sie schlussendlich unter Kosten einsparen?

Es braucht ohne Verzug wieder eine Denk- und Handlungsweise im ursprünglichen Sinne des KVG. Alle Akteure im Gesundheitswesen müssen eine kontinuierliche Kostendisziplin verfolgen. Der Input, die Motivation und die Kontrolle hat durch die für den Gesetzesvollzug Verantwortlichen zu erfolgen. Unter Disziplin verstehe ich die Selbstdisziplin als bewusste Selbstregulierung aller Teilnehmer. Nicht alles, was medizinisch möglich ist, soll auch in jedem Fall gemacht werden. Es geht nicht um eine maximale, sondern um eine optimale Versorgung. Das heisst für mich nachhaltiges Wirtschaften im Gesundheitswesen und dazu gehört Kosten sparen. Zudem muss das Gesundheitswesen digitaler werden, wobei eine digitale Versorgung einen zeitgemässen Datenschutz braucht und schlussendlich ist eine koordinierte Versorgung wichtiger als das Spital vor der Haustür.

 

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1 Kommentar

  1. Herr Jodok Wyer geht irrtümlich davon aus, dass unser Krankenkassenwesen dem allgemeinen Versicherungswesen gleichgestellt ist und desshalb dessen Regeln zu befolgen hat. Der ursprüngliche Gedanke einer obligatorischen Krankenkasse für die Grundversorung war jedoch die Bevölkerung, analog der Absicherung im Alter mit einer Altersrente, vor Mangel und Ungerechtigkeit zu schützen. Es handelte sich also in beiden Fällen um staatliche soziale Massnahmen, die durch das Bundesgesetz festgeschrieben wurden und rein gar nichts mit dem Management und der üblichen Gewinnmaximierung privater Versicherungs- und Finanzunternehmungen zu tun haben sollte.

    Der Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass bereits beim Aufkommen des ursprünglichen Gedankens unserer damaligen Regierung für eine gerechte Versorgung und Absicherung bei Krankheit für alle, der Grundversicherung in Form einer staatlichen Krankenkasse, diverse private Versicherungsfirmen und Banken sich intensiv in die Geschäfte der Politik eingemischt und dafür gesorgt haben, dass wir seitdem, bei unaufhörlich steigenden Krankenkassenbeiträgen, von privatrechtlich und Gewinn orientierten Finanz- und Versicherungsfirmen abhängig und quasi an sie ausgeliefert sind.

    Dasselbe Szenario sehen wir bei der Einführung der obligatorischen 2. Säule BVG, was ich wie bei den Prämien für die Grundversorgung der Krankenkassen, für reine Abzocke und äusserst ungerecht gegenüber Arbeitnehmer*innen halte, die sonst schon mit einem niedrigen Einkommen durchkommen müssen. Der Druck für die weitere sogenannte «freiwillige» Altersvorsorge wie BVG I, II, und weitere, verunmöglicht eine gesunde, faire und für Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen zahlbare Altersvorsorge gemäss der gesetzlichen Vorlage.

    Es macht mich unheimlich wütend, dass private Firmen der Finanz- und Versicherungsbranche sich seit Jahrzehnten an den vom Staat unrechtsmässig als obligatorisch erklärten BVG-Abzügen mit Milliardenbeträgen pro Jahr bereichern und sich u.a. als Investoren in Bauland und Immobilien, die eigentlich von Kantonen, Gemeinden und Baugenossenschaften als dringend benötigten sozialen Wohnungsbau erworben und ausgeschieden werden sollte, bereichern und nicht zuletzt ihre glänzenden Firmenpaläste finanzieren und uns als Machtsymbol vor die Nase setzen.
    Vielleicht sollten Sie sich Herr Weissen, einmal darüber Gedanken machen bevor Sie den Befürwortern der Profiteure unseres fehlgeleiteten Gesundheitssystems eine Bühne bereiten. Es existiert übrigens eine SRF-Doku der parlamentarischen Prüfungskommission, die seinerzeit die Beteiligung und Einflussnahme der Versicherungs- und Bankenbranche bezeugt.

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