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Das grosse Vergessen

Erfahrung, Erleben, Forschung, Pflegen – ein Buch über Demenz beleuchtet alle denkbaren Themen

Einst war es die Tuberkulose, dann der Krebs, jetzt ist es Alzheimer, vor dem wir uns fürchten. Jede Generation in unserer hochzivilisierten Gesellschaft hat ihre Volkskrankheit, gegen die es kein Heilmittel gibt, jedenfalls noch nicht, geht mir durch den Kopf.

Ist das dicke Buch mit dem Titel demenz. Fakten – Geschichten – Perspektiven ein Nachschlagewerk? Ist es eine Geschichtensammlung? Es erfüllt beide Aufgaben: Der Wälzer für ein breites betroffenes Publikum, aber auch für Profis aus dem Sozial- und Gesundheitsbereich vermittelt den aktuellen Stand der Forschung, geschrieben von jenen, die nah dran sind, jedoch in einer populärwissenschaftlichen Sprache.

Schwergewichtig aber nicht schwierig zu lesen: das neue Buch über Demenz

So wird die Geschichte der Krankheit seit der Beschreibung durch den Arzt Alois Alzheimer vor über hundert Jahren zusammengefasst, werden Zusammenhänge zwischen Krankheit und Verhalten aufgezeigt oder auch der Verlauf der Demenz bis zum Selbstverlust und zum Tod – immer wieder von anderen Autorinnen und Autoren verfasst. Mehrere Beiträge geben Ratschläge im Umgang mit Patienten und beschreiben den Alltag in Pflegeheimen und geriatrischen Institutionen, wobei therapeutische und soziale Aktivitäten wie Tanzen oder Singen ebenso ihren Platz haben wie Forschungsergebnisse. Weil von der Alzheimerdiagnose Betroffene und deren Partner selber ihr Erleben in Worte fassten, ist das Buch alltäglich und lebensnah, also auch voller Schmerz und Leiden am Verlust der Möglichkeiten, der sozialen Kontakte, der Erinnerungen. Schliesslich ist demenz. ein Bilderbuch: Grafiken vom Gehirn und sozialen Modellen, Fotos aus der Praxis, auch aus der Küchenpraxis eines engagierten Kochs im Pflegeheim, Bilder von Patienten aus der Maltherapie.

Was die Herausgeberin Irene Bopp-Kistler vor allem vermitteln will, ist die Lebensfreude, die trotz Demenz nicht zu erlöschen brauche. Da scheint mitunter etwas viel Zweckoptimismus aus den Zeilen. So zeigt sich in verschiedenen Berichten, Beschreibungen, Reportagen und Betrachtungen die Grundidee, dass es ums Ganzheitliche gehen müsse, nicht um das Herausstellen der Defekte, das Ausgrenzen, das Abwerten. So enthält das Buch als zehntes und letztes Kapitel einen Schwerpunkt spirituelle Dimension.

Kein Platz blieb frei bei der Buchvernissage im Waidspital

Irene Bopp-Kistler ist Leitende Ärztin der Memory-Klinik am Zürcher Waidspital. Dort wurde das Buch im völlig überfüllten Kongresszentrum vorgestellt. Medizinische Fachleute und Angehörige von Demenzkranken, Journalisten und Interessierte, dazu die meisten der Autorinnen und Autoren folgten den Gesprächen zum Buch mit Interesse.

Diese Buchvernissage ist nebenbei eine Gratislektion in Forschungstheorie und -politik: Gerd Folkers, Präsident des Schweizerischen Wissenschaftsrats und ETH-Professor für pharmazeutische Chemie erinnert an die vielen Studien, allen voran an die Nonnenstudie, die spannende Resultate, aber keinen Durchbruch für die Therapie brachten. Dennoch, in der Wissenschaft „gibt es keine Sackgasse,“ so seien die meisten Medikamente Nebenprodukte des erhofften Ziels.

Ablagerungen im Hippocampus eines alten Alzheimer-Patienten. © CC BY-SA 3.0

Sein Gesprächspartner Anton Gietl, Forscher in der Psychiatrischen Uniklinik PUK, ergänzt, dass man das Krankheitsbild je länger je besser verstehe. So ist es heute möglich, die Amyloid-Ablagerungen im Gehirn auch bei Lebenden nachzuweisen, aber von einer Impfung gegen Alzheimer ist man noch weit entfernt. Dagegen sei Prävention für Risikopatienten fast gratis, das zeige die so genannte FINGER-Studie. Freilich hilft es nichts, mit der richtigen Ernährung, Bewegung und den kognitiven Übungen erst bei Demenz oder im hohen Alter zu beginnen. Folkers nennt das Beispiel Grüntee: Wer lebenslang täglich davon trinkt, hat eine nachweisbare Wirkung, wer ein paar Liter davon bei einer Grippe runterkippt, könnte auch warmes Wasser nehmen.

Beide Wissenschaftler lassen sich von Verlegerin Anne Rüffer, welche die Gespräche moderiert, nicht aufs Glatteis führen: Einer Prognose, wann endlich mit dem „Durchbruch“ zu rechnen sei, verweigern sie sich. Bislang waren alle Pressemeldungen über den „Durchbruch“ nämlich Falschmeldungen.

Die Spezialärztin und Memory-Klinikleiterin Irene Bopp-Kistler hat das Demenz-Buch herausgegeben

In einem zweiten Gespräch, in dem Anne Rüffer die Geriaterin Irene Bopp und den Pfarrer Ralph Kunz, Professor für praktische Theologie mit Schwerpunkt Religions-Gerontologie befragt, geht es um die Stichwörter Palliation und Spiritualität. Die Diagnose Demenz bedeute nicht, dass „man da nichts machen“ könne, wie Bopp von Patienten oder Partnern oft zu hören bekommt. „I care for you = du bist mir wichtig“ solle ins Zentrum der Beziehung geholt werden, und Kunz ergänzt, dass careetymologisch auch mit Schmerz zu tun habe – wie in Karfreitag –, Mitgefühl und Empathie enthalte, daher besser passe als das einschränkende sich kümmern.

Unsere Gesellschaft hat die Tendenz, Kranke auszugrenzen, nicht erst seit heute. Da waren die Siechhäuser ausserhalb der Stadtgrenzen oder in den 80er Jahren die diffamierten Aidskranken. Die Humanität einer Gesellschaft misst sich am Umgang mit den Schwächsten: Kunz beschreibt einen „inklusiven“ demenzfreundlichen Gottesdienst in Berlin-Charlottenburg, bei dem Kranke und Gesunde in Ritualen, beim Fahrdienst, beim gemeinsamen Essen soziale Spiritualiät, also Gemeinschaft erleben.

Die wohl bekannteste Autorin eines Texts in dem Demenz-Buch ist Margrit Sprecher: wie alle anderen bekam sie eine gelbe Rose

Irene Bopp spricht auch von der Angst zu vergessen, wie der Partner einst war. Erinnern gehe über das Individuelle hinaus, es gebe ein gemeinsames Gedächtnis. Loslassen, seine Fertigkeiten, Fähigkeiten, Kontakte verlieren, das muss der Mensch mit der Diagnose Alzheimer leisten, loslassen und dennoch versuchen, gut und zufrieden zu leben. Bopp erwähnt den Skifahrer, der zwar einsieht, dass es nicht mehr geht, darob aber sehr leidet: In einem Ritual wurden seine Skistöcke dort in den Schnee gesteckt, wo er seine Abfahrten machte. Im Frühjahr beschliesst ein Besuch des Orts mit den Stöcken das Ritual. Nun ist das Kapitel Skifahren abgeschlossen.

demenz. Fakten  – Geschichten – Perspektiven. Hg. von Irene  Bopp-Kistler.656 Seiten, rüffer&/rub Sachbuchverlag Zürich 2016. Fr. 44.00. ISBN 9783907625903

Lesungen aus dem Buch vertiefen und ergänzen die Gespräche. Larissa Schleelein liest die Geschichte über den Dementor, der die Erinnerungen aus einem aussauge, oder jene von Herrn T., der nach der schockierenden Diagnose seine Zukunft als Alzheimerpatient ordnet. Oder die Reflexionen des Logopädie-Professors, dem seit je klar war, dass Leben gleich Lernen und Kompensieren ist: Beim Käse schaue man nicht auf die Löcher, sondern auf die Substanz.

http://www.ruefferundrub.ch/

Am Mittwoch, 27. April 18.30 Uhr findet im Verlag die Buchvernissage statt.

s. auch: Mein Nachbar – ein Mensch mit Demenz zur Careum-Tagung auf seniorweb.ch/WISSEN

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