StartseiteMagazinGesellschaftFamiliengeschichte ist Zeitgeschichte

Familiengeschichte ist Zeitgeschichte

Ein Zeitungsausschnitt vom Begräbnis, eine Handvoll Fotos und eine Broschüre mit Nachrufen zu Hermann Müri, Sozialist und Nationalrat waren am Start zu einer Zeitreise im Turgi

Barbara Baldinger, Enkelin von Hermann Müri (1874-1938), wollte mehr über sein Leben, seine Familie und seine Herkunft erfahren. Ihre Recherchen – einerseits in den Archiven und Bibliotheken, andererseits bei noch lebenden Zeitzeugen – liegen nun als Buch vor. Vergessen, oder aus falschem Respekt vermieden hatte sie – wie so manche von uns – ihre Grossmutter zu fragen. Emilie Müri (1875-1968) hatte wenig aus ihrem und Hermanns Leben erzählt, tat die Geschichte als kaum von Interesse ab.

Hermann Müri, Nationalrat SP/AG

So musste die heute pensionierte Bezirkslehrerin, Historikerin und Museumspädagogin recherchieren, zusammentragen, verknüpfen bevor sie sich ans niederschreiben des BuchsMüri & Consorten machen konnte. Über 400 Seiten hat das Werk, erschienen im Eigenverlag. Unzählige Dokumente sind zitiert, eine Vielzahl von Fotografien zusammengestellt. Am kommenden Donnerstag, 28. November, ist Buchvernissage in der Aargauer Gemeinde Turgi.

Mit der Familiengeschichte, welche Baldinger bis zum Vorfahren Friedrich „Vökken“ Müri von Schinznach (1795-1845) und der Urahnin Hanna geb. Bläuer (1806-1886) verfolgte, beschreibt sie die Geschichte der Industrialisierung und der Arbeiterbewegung in der Region und der Schweiz (Müri hat am internationalen Sozialistenkongress 1912 in Basel teilgenommen) bis in die späten 30er Jahre.

Grusspostkarte aus der Industriegemeinde Turgi um 1898

Nur keine Panik, das Buch ist keine unlesbare Doktorarbeit. Es hat zwar einen sogenannten Apparat, das heisst Quellenhinweise und Anmerkungen (beispielsweise was das Schweizerdeutsche Wörterbuch Idiotikon zu föken/feken weiss: stehlen, zum Besten halten, etc), aber der laufende Text ist so leicht und spannend geschrieben wie ein historischer Roman. Die Personen sprechen miteinander, denken über ihre schwierigen Lebensumstände als arme Schlucker, ledige Mütter, Fabrikler und Verdingbuben nach. Manchmal schiesst Baldingers Einfühlungsvermögen fast übers Ziel hinaus.

Autorin Barbara Baldingers Enkelin heisst wie ihre Urgrossmutter und deren Mutter Emilie

Mit 14 wird Hermann Müri, unehelich geboren, zu einem Bauern verdingt. Er weiss dass er nicht von Friedrich Müri abstammt, denn seine Grossmutter behielt lebenslang für sich, wer der Vater ihrer Tochter Elisabeth gewesen war. Das damals übliche Geniessverhör, das herauspressen eines Geständnisses über die Vaterschaft während der Wehen hatte sie nicht über sich ergehen lassen müssen. Auch diese Elisabeth verriet nie, wer der Vater ihres Kinds Hermann war.

Der junge Hermann will der Schmach seiner Herkunft entkommen und will trotz grösster Schwierigkeiten eine Lehre als Schneider beginnen. Er hat gute Zeugnisse aber kaum Geld, er ist behindert, kann jedoch seinen Lehrmeister schnell von seinen Fähigkeiten überzeugen. Nach der Ausbildung geht er auf Wanderschaft nach München, wo er im Kreis des Fachvereins der Schneidergesellen mit dem Gedankengut der Arbeiterbewegung in Berührung kommt. Mit 18 Jahren, 1892, wird er der erste Gewerkschafter in Turgi, welches zu einem Industrieort mit Bahnhof, reichen Spinnereiherren und verelendeten Proletariern in schäbigen Kosthäusern geworden ist.

Pater Familias Hermann Müri mit Familie

Bald hängt er den Schneiderberuf an den Nagel und wird hauptberuflich Arbeitersekretär, ist bei der Gründung des Freien Aargauers, der linken Zeitung massgebend, wird 1909 in den Gemeinderat von Turgi und ins Aaargauer Parlament gewählt. Hermann Müri hat seine Berufung gefunden: Zeitlebens setzt er sich für die Arbeiter ein, verliert sein Ziel, Gerechtigkeit und Freiheit für alle einzufordern, auch als Nationalrat und wohlhabender Gemeindebürger nie aus den Augen. Seine Devise ist: „Eine Freiheit, die nicht allein vom Herrn im Himmel kommt, sondern vom Volk, das sich selber hilft, damit es Herr wird über sich und seine Arbeit.“

Plakat des Basler Friedenskongresses von 1912, wo Hermann Müri dabei war

Aber Müri & Consorten (der Titel spielt auf eine Verhaftung nach einem gewerkschaftlichen Protest in Turgi an) ist mehr als die Biografie eines bekannten Aargauer Politikers und Gewerkschafters, mehr als ein Stück Arbeiter- und Sozialgeschichte des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, denn das Private ist der Autorin ebenso wichtig wie das Gesellschaftliche. Der Satz, das Private ist politisch, wird in diesem Buch eingelöst. Darum haben die Frauen in der Geschichte breiten Raum, die Mutter und Grossmutter, welche beide ihrer unehelicher Kinder wegen stigmatisiert werden, die Ehefrau Emilie, welche als Dienstmagd und Kindermädchen bei einem Spinnereipatron arbeitet und sich danach der Familie gewidmet hat, die Töchter, welche sich vom sturen Familienoberhaupt zu emanzipieren versuchen, vor allem die jüngste, die sich nun Mimy anstelle von Emilie nennt.

Mimy (5. von rechts), wie sich Emilie jetzt nennt , ist Telefonfräulein 

Sie gehen wandern, treiben Sport, reisen, und lernen, welch letzteres vom sozialistischen Vater gefördert wird. Baldingers Mutter Mimy wird Telefonistin und heiratet gegen den Willen beider Väter den Sohn des politischen Erzfeinds von Hermann Müri: Eine „Romeo und Julia auf dem Turgi“-Geschichte, wie Barbara Baldinger anmerkt. Immer wieder schildert sie den rührigen und hilfsbereiten Aktivist und Arbeitersekretär Müri, der zuhause ein traditionell denkender, gestrenger Vater und Ehemann war: Er konnte schon ausrasten, wenn seine Suppe etwas zu heiss war. Aber das war damals keine Ausnahme, im Gegenteil.

Der einstige Verdingbub ist stolzer Autobesitzer

So wie der Text, sind auch die Fotos in dem Buch: es gibt neben den historischen Bild-Dokumenten Porträts der handelnden Personen und später aus den 20er und 30er Jahren Schnappschüsse von Bergwanderungen, vom ersten Auto in Turgi, welches sich Nationalrat Müri geleistet hat, um mit der Familie sonntags auszufahren, aber auch Faksimiles von Briefen, Flugblättern und anderen Dokumenten.

Barbara Baldinger: Müri & Consorten. Eigenverlag, Turgi 2013. 426 Seiten. 30 Franken plus Versandkosten
Bestelladresse: 
http://www.leabaldinger.ch/ (oder zu beziehen im Gemeindehaus Turgi)

Buchpremiere mit Lesung durch die Autorin Barbara Baldinger am
Donnerstag, 28. November 2013, 20.00 Uhr
Bauernhaus an der Limmat, 5300 Turgi (an der Bahnhofstrasse) 

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