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Mein Nachbar – ein Mensch mit Demenz

Beim Thema Demenz können wir nicht mehr wegschauen. Bringen «Inklusion und Teilhabe» zukünftig die Lösung für den Umgang mit Demenzbetroffenen?

Über Demenz wird viel nachgedacht, geforscht, sozial verträgliche Lösungen werden gesucht – und doch bleibt es ein angstbesetztes Thema. Wer möchte schon gern von diesem Leiden betroffen sein, wer möchte in seiner Familie oder im Freundeskreis für an Demenz erkrankte Menschen zu sorgen haben. Die Tagung der Careum-Weiterbildung «Inklusion und Teilhabe» widmete sich diesen Fragen besonders im Hinblick darauf, wie Lebensqualität und Wohlbefinden durch die Einbindung in soziale Netze und die Teilnahme am sozialen Leben erhalten werden können. Denn, wie Carsten Niebergall, Bereichsleiter Alter(n)&Generationen Careum Weiterbildung, es ausdrückt: «Menschen mit Demenz sind keine Bürger zweiter Klasse: Sie sollen in die Lebenswelt eingebunden sein wie jeder andere auch. Anzustreben ist ein gesellschaftliches Miteinander, die Sicherung einer Zugehörigkeit, bei dem die unterstützte Person ihre Hilfen so lange wie möglich selber steuert.»

Das erfuhren die Teilnehmenden eindrucksvoll in den Stellungnahmen Betroffener. Es ist uns viel zu wenig bewusst, dass Demenz nicht nur im hohen Alter als eines der Symptome des schwindenden Lebens auftreten kann. Nein, auch bei Menschen, die noch lange nicht ins übliche Pensionsalter eintreten, können die neurologischen Veränderungen, die schleichend zu Hilfsbedürftigkeit und Verlust der Selbstständigkeit führen, diagnostiziert werden.

Meist beginnt es mit dem Verdacht auf ein Burn-out, eine körperliche Erschöpfung, die sich auch im geistigen und seelischen Bereich manifestiert. Besonders benachteiligt sind derart Betroffene dadurch, dass ihnen in ihrer Situation oft die notwendigen Kräfte fehlen, für die Erhaltung ihrer vorhandenen Fähigkeiten das Bestmögliche zu tun. Obwohl sich allerorten Fachleute mit Demenz beschäftigen, ist es nicht leicht, im individuellen Fall die passende Hilfe zu finden. Selten verfügt ein Mensch mit Demenz über so viel kämpferische Willenskraft wie Helga Rohra.

Helga Rohra (2. von links) zusammen mit Tagungsteilnehmenden. Ganz rechts: Katharina Müller, Projektleiterin «Mit uns statt über uns»

Als Dolmetscherin standen ihr früher neun Sprachen zur Verfügung, aus denen sie vor allem zu Gesundheitsthemen übersetzte. Seit dem Beginn ihrer Demenz kann sie sich nur noch auf Deutsch und Englisch verständigen – dies aber mit beeindruckender Überzeugung und Willenskraft. Mit ihrem Beispiel, die Fähigkeiten, über die sie noch verfügt, bewusst zu trainieren und einzusetzen, will sie andere jüngere von Demenz Betroffene ermutigen, sich darauf zu besinnen, in welchen Bereichen sie noch selbständig handeln können. Wie in anderen Lebenssituationen sind Resignation und Mutlosigkeit zuverlässige Wegbereiter für eine schnelle Verschlechterung. – Dies gilt es zu vermeiden, wenn den Betroffenen und ihrem Umfeld geholfen werden soll.

Die Lebensqualität verbessern

Menschen mit Demenz in ihren Einschränkungen zu akzeptieren und ihnen soziale Teilhabe zu ermöglichen, trägt wesentlich zu mehr Lebensqualität und individuellem Wohlbefinden bei. Dass die Betreuenden dabei sehr einfühlsam und intelligent vorgehen sollten, zeigt ein Beispiel, das Stefanie Becker erzählte: Ein 93-jährige Frau, früher als Fotografin tätig und nun neben einer leichten Demenz auch an Netzhautdegeneration erkrankt, beklagte sich über ihre Einsamkeit. Auf die Frage, warum sie nicht an den Aktivitäten der Altersgruppen teilnehme, erklärte sie, ihr seien die ständigen Gespräche über Altersbeschwerden zu langweilig – und über Anspruchsvolleres könne sie in diesem Kreise gar nicht anfangen zu sprechen. – Alter bedeutet nicht gleichzeitig Unfähigkeit, sich für Neues zu interessieren!

Stefanie Becker, Gerontologin und Psychologin, Geschäftsleiterin der Schweizerischen Alzheimervereinigung

Stefanie Becker plädiert für einen Wertewandel im Umgang mit Menschen mit Demenz, dafür, einen Demenzbetroffenen als Person, d.h. als Mit-Mensch zu behandeln. Dabei bezieht sie sich auf die Arbeiten von Tom Kitwood. Menschsein erschöpft sich nicht in kognitiver Leistungsfähigkeit, wichtiger sind die Wahrnehmung der Gefühle und die Reaktionsfähigkeit. Inklusion würde dann bedeuten, eine offene, «gastfreundliche» Haltung dem Menschen mit Demenz gegenüber einzunehmen, angepasst an die entsprechende Situation. Der Abbau von Ängsten und Stigmata ist dafür eine wichtige Voraussetzung.

Inklusion – eine «Alibiübung»?

Inklusion als Begriff und die Forderung, diese umzusetzen, verbreitete sich zunächst im Zusammenhang mit der Eingliederung von Behinderten, seit kurzem hört man ihn sogar in der Flüchtlingsarbeit. In einer engagierten Gegenrede wandte sich Michael Schmieder gegen eine unkritische Überbewertung der Inklusion. Er stösst sich daran, dass die Betreuung von Demenzbetroffenen einfach Freiwilligen übertragen werden soll, um teure Pflegekräfte einsparen zu können.

Michael Schmieder, Leiter des Alterszentrum Sonnweid in Wetzikon

Inklusion immer und überall setze sich über die Bedürfnisse und Befindlichkeiten dieser Menschen hinweg. Schmieder wünscht sich, dass «das Zusammenleben so gestaltet werden soll, dass ein Mensch mit oder ohne Einschränkung ein Leben führen kann, das ihm persönlich entspricht.» Das ist nur möglich, wenn die Betreuenden individuell auf Menschen eingehen, wenn von Demenz Betroffene angemessen, aber nicht unbedingt überall, am Leben teilnehmen können.

Aus wissenschaftlicher Warte hatte Ulrich Otto zu Beginn der Tagung Zukunftsszenarien der Teilhabe für Menschen mit Demenz skizziert. Er bezog sich teilweise auf das Buch «Leben mit Demenz im Jahre 2030» (s.u., Leseempfehlungen). Er erinnerte daran, dass sich der Umgang mit Demenz-Betroffenen in den letzten dreissig Jahren grundlegend geändert hat. Er selbst hatte 1980 achtzehn Monate lang als junger Zivildienstler in einer geschlossenen Demenzstation gearbeitet – heute unmöglich!

Prof. Ulrich Otto, Leiter der Careum Forschung, Forschungsinstitut der Kalaidos Fachhochschule Gesundheit Zürich

An Forschung mangele es heutzutage nicht, stellte Ulrich Otto fest, gerade Zürich sei ein Hotspot, was Prävention und Therapie der Demenzerkrankungen angeht. Entscheidend aber werde sein, welchen Werten sich eine Gesellschaft verpflichtet sehe. Daraus werden sich die politischen und rechtlichen Richtlinien entwickeln. Schliesslich werde es um die Frage gehen, wie viele finanzielle Ressourcen die Gesellschaft bereit sei, für die soziale und pflegerische Versorgung auszugeben.

Diese Tagung, die ausgewiesene Fachleute und Betroffene zusammenbrachte, zeigte höchst unterschiedliche Perspektiven neben praktischen Ansätzen, die in kleinen Diskussionsrunden aufeinandertrafen. Eines der gegenwärtig grössten Probleme – vor allem für Hilfesuchende – liegt wohl darin, dass die Zahl der Institutionen und Organisationen schwer zu überblicken ist. Für diejenigen, die neu mit einer Demenz-Diagnose konfrontiert werden, scheint es nicht einfach, die individuell bestmögliche Unterstützung zu finden.

Zur Tagung «Inklusion und Teilhabe» der Careum Weiterbildung, Aarau.

Leseempfehlungen (in alphabetischer Reihenfolge):
Tom Kitwood, Demenz. Der person-zentrierte Ansatz im Umgang mit verwirrten Menschen. Huber Verlag, Bern 2008
Helga Rohra, Aus dem Schatten treten. Warum ich mich für unsere Rechte als Demenzbetroffene einsetze. Mabuse Verlag 2012
Michael Schmieder, Dement, aber nicht «bescheuert» Ullstein Buchverlage 2015
Horst Christian Vollmar (Hrsg.), Leben mit Demenz im Jahre 2030. Ein interdisziplinäres Szenario-Projekt zur Zukunftsgestaltung. Versorgungsstrategien für Menschen mit Demenz. Beltz Juventa 2014

Titelbild: Neurofibrillen im Hippocampus einer Person mit Alzheimer-Diagnose
© patho / commons.wikimedia.org.
alle anderen Fotos: © Careum-Weiterbildung

s.a.: Das grosse Vergessen

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