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Selma Lagerlöf und Barbara Thoma

Die erste Literatur-Nobelpreisträgerin, mit Begeisterung und Gewissenhaftigkeit von ihrer Biografin zu neuem Leben erweckt.

Nein, die junge Autorin von heute vermeidet es, den Erzählstil Selma Lagerlöfs zu imitieren. Doch man spürt ihre Nähe zur bereits zu Lebzeiten berühmten Dichterin. Barbara Thomas lebendiges, fesselndes Buch liest sich über weite Teile wie eine episch angelegte Erzählung. Nur die Fussnoten weisen darauf hin, dass es sich bei diesen 300 Erzählseiten, den 20 schwarz-weissen Bildern und einem ausführlichen Anhang um eine gründlich recherchierte Biografie handelt. Um die erste wohl über Selma Lagerlöfs ganzes Leben überhaupt, einmalig mindestens der Sachgerechtigkeit, des Aufstöberns und Nutzens zahlreicher Quellen wegen. Barbara Thoma ist stark in Poetologie und Romantheorie und bearbeitete für dieses Buch unzählige wissenschaftliche Publikationen, Briefe, Familiendokumente und nicht zuletzt bisher unveröffentlichte Zeitzeugenaussagen. Ihre Sprache ist so präzis wie einfühlsam und enthält nicht wenige erzählerische, stilistische Kostbarkeiten.

Die schwedische Nationaldichterin und ihre Wurzeln

Selma Lagerlöf (1858-1940) – erlebt aus der Sicht von Barbara Thoma – hat vielseitige Wurzeln. Einerseits wirkt die starke Verankerung im Boden von Heimat und Elternhaus (Mårbacka) und in den konzentrischen Kreisen von Familie und Verwandtschaft. Dazu gehört besonders auch die schmerzliche innerliche und äusserliche Auseinandersetzung mit dem zwielichtigen Bild des Vaters. Zum anderen, und verknüpft mit der ersten, nährt sich die zweite Wurzel tief aus dem Boden der mystischen, sagenreichen Welt, der Landschaft und der Menschen des Värmlandes, Selmas schwedischer Heimat. Darüber hinaus zeichnet eine unbestechliche, selbständig denkende und handelnde starke Persönlichkeit schon die ganz junge und später die gereifte Frau aus – nicht ohne schroffe Kanten, die manchmal auch verletzen können. Auch die lichte Seite gehört dazu, nämlich das Wirken der menschenfreundlichen, um die Frauen, Männer und Kinder ihrer Umgebung besorgte Frau. Der Bericht der Biografin gewinnt an Weite, Kontur und Farbe durch die Schilderung der landesweiten Verbreitung von Selma Lagerlöfs Werken und der daraus folgenden Verehrung der Erzählerin und ihres Werks in allen Kreisen der Gesellschaft. Die Bedeutung, die Selma Lagerlöf in Schweden erringt, öffnet ihr eine treue Leserschaft in der ganzen Welt.

Wenn auch nicht überall aus denselben Gründen. Beispiel ist „Nils Holgerssons wunderbare Reise mit den Wildgänsen“: Erst durch Barbara Thoma mag man vielleicht erfahren, dass dieses zauberhafte Buch als Geografie-Lehrmittel im Auftrag der zuständigen Erziehungsbehörde geschaffen worden ist. Hierzulande wie anderswo hat man es vor allem als märchenhaftes Bilderbuch für Kinder, selten mit dem übersetzten Originaltext, kennen gelernt.

Die Rezeptionsgeschichte, früher vor allem im Ausland, mit der Zeit auch in Schweden selbst, hat aus der ersten Frau, die 1906 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, eine schlichte Märchenerzählerin werden lassen. Das zeigt auch der schwedische Verlag, der mit und durch Selma Lagerlöf gross geworden ist und heute kein Interesse hat, eine schwedische Übersetzung dieser reichen und sorgfältigen Biografie herauszugeben.

Es gibt vermutlich ausserhalb Schwedens nicht viele Leute, die ausser dem „Nils…“, dem berühmten Erstling „Gösta Berling“ und den zauberhaften „Christuslegenden“, viele der gewichtigen Werke der schwedischen Autorin gelesen haben. Barbara Thoma führt im Anhang ihres Buchs 28 deutsch übersetzte Originalpublikationen auf. Im Buchtext, im Bericht über das Suchen, Ringen und Schaffen dieser Werke, zeigt sie minutiös auf, wie Selma arbeitet, wie es ihr manchmal rasch und manchmal fast zu knorzig, aber immer doch endlich gelingt, aus erlebtem Stoff ein literarisch bedeutendes Werk zu schaffen.

Spannend ist die Art und Weise, wie die Schwedin den Schluss ihrer Erzählungen findet. In der Regel sucht sie ein harmonisches Ende, eines, das dramatische, ja tragische Knoten und unabänderliche Verstrickungen mit dem humanen Verhalten der Protagonisten zu einem sinnvollen Ende führt, das zum Beispiel den Neubeginn eines Lebensabschnittes signalisiert. Sichtbar wird es am Schluss des berühmten „Gösta Berling“: Der Hammer des Eisenwerks beginnt wieder zu schlagen, wie im übertragenen Sinn das Herz von Gösta und seinen engsten Gefährtinnen und Gefährten.

Värmland, seine Leute und seine Sagen

„Von Wildgänsen und wilden Kavalieren“ lautet der Untertitel der Biografie. Er umschreibt den Bogen von „Gösta Berling“ (original 1891 – bemerkenswerte deutsche Neuübersetzung von Paul Berf, Piper Verlag München 2007) bis zu „Nils Holgersson…“. In beiden Büchern schöpft sie aus dem reichen Schatz der Mythologie und Sagenwelt, aber auch, ganz stark in „Gösta Berling“, aus dem Volk, dem sie die originalen Charakterpersönlichkeiten ablauscht, von den Grossen und Kleinen in dieser schwedischen Heimat und Landschaft. Öffnet man die „Christuslegenden“, tritt auf der ersten Seite der ersten Erzählung („Die heilige Nacht“) Selmas Erinnerung an die Erzählungen ihrer Grossmutter entgegen. Die Charaktere der schwedischen Nobelpreisträgerin, die Lebendigkeit ihrer geschilderten Landschaften, vor allem des geliebten Värmlandes, die Sagen, Legenden, unheimlichen und heimeligen Geschichte alle, jedoch auch das auf Reisen eingesammelte Fremdartige – Selma Lagerlöf webt daraus anrührende, bestürzende, erregende und erhebende Erzählungen.

Fast vergisst man, dass sie auch Gutsherrin und Kleinunternehmerin war. Wenn auch mit eher beängstigenden finanziellen Folgen, wären da nicht die soliden Einkünfte aus dem literarischen Schaffen gewesen. Selma Lagerlöf, berichtet ihre Biografin, war wohlhabend, doch geschäftlich erfolglos – und nicht immer durch eigene Schuld. Es ist ein grosses Verdienst von Barbara Thoma, dass zahlreiche, auch befremdende Facetten dem Bild von Selmas Persönlichkeit Relief verleihen. Es ist unmöglich, auf knappem Raum den Reichtum an Details und Perspektiven dieser Biografie auch nur in den Grundzügen auszubreiten. Man muss das Buch lesen, und man lernt viel über Legenden, Sagen, Landschaft und Erzählung als Nährboden für Literatur und über den Prozess des Schreibens. Und man wird ähnlich gefesselt von der lebensvollen Erzählung der Biografin wie vom originalen Erzählstil Selma Lagerlöfs.

Das Buch ist 2013 im Römerhof Verlag, Zürich erschienen
ISBN 978-3-905894-24-0

Titelbild (fv): Barbara Thoma beim Signieren anlässlich der Vernissage in der Schwedischen Residenz, Bern.

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