StartseiteMagazinKulturVom Schreiben im Rausch oder nach Fahrplan

Vom Schreiben im Rausch oder nach Fahrplan

Inspiration und Ekstase beim Verfassen von literarischen Texten untersucht das Museum Strauhof

«Damit es Kunst gibt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen gibt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der Rausch,» sagt Friedrich Nietzsche. Mit der Literaturausstellung Schreibrausch – Faszination Inspiration versuchen die Kuratoren (Andreas Schwabe und Magnus Wieland) und Szenografen (Ushi Gillmann und Lars Egert), den Schreibprozess sichtbar zu machen von der Blockade oder dem Schreibstau – dem Horror vor dem leeren Blatt – bis zum exzessiven Schreiben in einem rauschhaften, von der Alltagsrealität abgehobenen Zustand der Inspiration. Also beginnt der Rundgang im Strauhof mit einer Installation weisser Blätter (eingesandt von angefragten Autorinnen und Autoren) und endet bei unlesbaren, weil vielfach überschriebenen Teppichen aus Buchstaben.

Kein Tag ohne Zeile. Längst nicht alle Schreibenden halten sich daran

Das qualvolle Warten auf Inspiration, sei es auch nur für einen ersten Satz in einem Trauerbrief oder einer Bewerbung, kennen wohl alle, die des Schreibens kundig sind. Dafür gibt es, Internet sei dank, heute allerhand Hilfen.

Das Geheimnis, wie Literatur entsteht, kann die Ausstellung nicht beantworten, will sie auch nicht. Dafür wird einem das je unterschiedliche Handwerk der Schriftsteller und Autorinnen erklärt. Die einen brauchen Regelmässigkeit bis zu einer täglichen Zeilennorm, der sie folgen, andere warten so lange, bis sie ihren Text in kurzer Zeit mehr oder minder am Stück aufschreiben können.

Schreibrausch mit einem Bücherregal visualisiert 

Rauschhaft einen Text zu schreiben, ist pures Glück, da kann essen, schlafen, kommunizieren aufs absolut lebensnotwendige Minimum reduziert werden – einerseits lebensfeindlich, andererseits lustvoll. So ergibt sich von selbst, dass dieser Zustand immer wieder gesucht wird, auch mit künstlichen Rauschmitteln.

Jack Kerouacs Typoskript auf Endlosrolle als Papierschlange im Raum. On the Road wurde 1952 geschrieben

Goethe schrieb seinen Werther in vier Wochen, Kafka brauchte für die Erzählung Das Urteil eine lange Nacht. Den Schreibrausch optisch darstellen geht durchaus mit einem Bücherregal, Büchern und einem Aufkleber, wie lang das Verfassen gedauert hat, bis das Regal an die Stirnwand auf Guido Bachmanns aufgeblasene Wörter aus einem Kapitel des Romans Dionysos, geschrieben in einer rauschhaften Nacht 1988 stösst. Oder mit der zwar faksimilierten, aber originallangen 35-Meter-Papierschlange, auf die Jack Kerouac On the Road tippte. Das Manuskript läuft aus der alten Remington-Schreibmaschine in Wellen und Kringeln über die Decke des Raums, bis es vor roter Wand mit Kerouac-Zitat wieder den Boden erreicht.

Stimulans Nummer eins war und ist der Alkohol. Ausstellungsansicht

Künstlich erzeugter Rausch und Schreiben ist eine häufige Versuchsanordnung, in der Ausstellung bestens dokumentiert: Mit einer Magnumflasche vom Besten, geleert von Friedrich Dürrenmatt, Zeichnungen von Jean Cocteau im Opiumrausch verfertigt, auch Charles Baudelaires Künstliche Paradiese oder Walter Vogts Drogenversuche. William S. Burroughs und zuvor schon die Surrealisten versuchten, den Rausch oder auch das Ausschalten der Vernunft beim Schreiben mit Mitteln des Schreibens zu erreichen (Cut-up-Schreibtechnik, Cadavre exquis). In Vitrinen gibt es Raucherwaren aus Hermann Burgers Stumpenland, eine vollgekritzelte Zigarilloschachtel von Niklaus Meienberg, beschriftete Zigaretten von Ludwig Hohl und – Pendant zur Bordeauflasche – Max Frischs Pfeifen.

Georges Simenon: Arbeitsplan zum Roman «Maigret et le voleur paresseux» (1961) © Collection Fonds Simenon, Simenon.tm

Literatur entsteht auch ganz diszipliniert: Am Treppenaufgang im Strauhof heisst es wiederholt nulla dies sine linea (kein Tag ohne Zeile). Als berühmtes Beispiel gilt Thomas Mann. Er schrieb wie ein Beamter in seinem Kontor täglich zu präzisen Stunden. Und Georges Simenon, Erfinder des Maigret und Autor vieler Romane ohne den bekannten Kommissar, plante seine Vorarbeits-, Schreib-, Korrekturzeiten für ein Buch minutiös.

Nach dem mühsamen Anfang (illustriert am Beispiel Wolfgang Koeppen) und dem exzessiven Schreibrausch folgt als dritter Teil die Verdichtung vom Rausch zum Rauschen: Aus einem Manuskript oder Typoskript wird ein visuelles Kunstwerk, dessen Wortinhalt nicht oder fast nicht mehr zu entziffern ist: Marie von Ebner-Eschenbachs Notizhefte sind bunte Zeichnungen aus Wörtern, Martin Mosebach und Robert Walser verkleinerten ihre Schrift bis ins kaum Lesbare. Und Peter Esterhazy verfasste eine Hommage an den für ihn prägenden ungarischen Autor Géza Ottlik (1912-1990), indem er dessen Roman Die Schule an der Grenze mit der Hand auf ein Blatt Paper abschrieb, nicht mehr entzifferbar, aber ein Statement für Grenzüberschreitung in einem totalitären Regime.

Ausschnitt aus einem «Cadavre exquis», bei dem Meret Oppenheim mitschrieb. 

Ein Reader zur Ausstellung erschliesst weitere Dimensionen des literarischen Schreibprozesses, der künstlichen Stimulantien von A wie Alkohol über L wie LSD bis Z wie Zigaretten und der vielfältigen Versuche, einen Anfang zu finden. Vier Video-Interviews (Paul Nizon, Mariella Mehr, Melinda Nadj Abonji und Michael Stauffer) erhellen die je anderen Techniken, Inspiration zu finden, und am Ende darf sich der Besucher an einem Cadavre exquis versuchen: Vorlagen von Meret Oppenheim und Freunden liegen in Vitrinen.

Fotos: E. Caflisch

bis 7. Mai 2017
Mi/Fr 12–18 Uhr | Do 12–24 Uhr | Sa/So 11–17 Uhr

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