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Wie zwei Liebende sich finden

Das stille Film-Drama «God’s Own Country» des Briten Francis Lee erzählt vom harten Leben in der englischen Provinz und von der langsam sich entwickelnden Liebe zweier Männer.

Das Leben des 24-jährigen Johnny (Josh O’Connor) ist karg und einsam. Er wohnt und arbeitet auf der abgelegenen Schafsfarm seiner Familie im Norden Englands. Zwischen ihm, seinem kranken Vater (Ian Hart) und der stoischen Grossmutter fallen nur wenige, brüske Worte. Um seine Einsamkeit und Frustration zu betäuben, betrinkt er sich jeden Abend im nahen Pub und hat ab und zu unverbindlichen Sex mit jungen, gesichtslosen Männern. Nachdem sein Vater Martin einen Schlaganfall erlitten hat, muss er sich mit der Grossmutter Deirdre (Gemma Jones) um die Schafzucht der Familie kümmern. Kein leichter Job. Die Natur ist karg und wild, schön und unerbittlich zugleich. Als im Frühjahr für die Zeit des Nachwuchses im Stall ein junger Saisonarbeiter, Gheorghe (Alec Secareanu) aus Rumänien, auf die Farm kommt, ist Johnny zunächst misstrauisch und mürrisch. Je mehr Zeit die beiden Männer jedoch bei der Arbeit miteinander verbringen, desto intensiver wird ihre Beziehung. Aus flüchtigen Blicken und Gesten werden Berührungen, bis sie in der Abgeschiedenheit eines Camps in den Hochmooren das erste Mal miteinander Sex haben. Johnny begehrt Gheorghe nicht nur körperlich, er fühlt bei ihm auch eine Geborgenheit, die er zuvor nicht kannte. Doch was geschieht, wenn Gheorghe nach der Saison wieder in sein Land zurückkehrt? Oder was ändert sich, wenn Gheorghe endgültig auf der Farm bleiben soll?

Der britische Regisseur Francis Lee hat sein raues Regiedebüt in der eigenen Heimat, der ehemaligen Grafschaft Yorkshire im Nordosten der Insel, gedreht. Aufgrund ihrer archaischen Landschaft nennen die Einwohner diese auch «God’s Own Country», quasi Gottes eigener Hinterhof. Inmitten dieser unwirtlichen Natur, die auch als Abbild der Isolation seiner Figuren dient, erzählt Lee in realistischen, zum Teil abstossenden, zum Teil zärtlichen Szenen, in harscher Schönheit und verdrängter Intimität, die packende Geschichte einer emotionalen und sexuellen, ja einer gewaltigen Liebe.

Als sehe er die Schönheit seiner Heimat zum ersten Mal

Vom Feld in den Stall, dann in den Pub und ins Bett

Das Leben ist hart in den nordenglischen Pennine Hills. Wer den kargen Äckern etwas abtrotzen will, die sich hier an archaisch anmutende Felshügel krallen, braucht seine ganze Kraft. Steine schleppen, Zäune bauen, den Stall misten, Lämmer und Kälbern füttern und auf die Welt bringen helfen. Harte körperliche Arbeit bestimmt den Tagesrhythmus. Da kann abends schon mal die Kraft für ein vernünftiges Gespräch fehlen, besonders über etwas hier so Zweitrangiges wie Gefühle.

Der Jungbauer hat sich dieses Leben nicht ausgesucht. Er lebt es einfach, wie sein Vater vor ihm. Abends wechseln die beiden noch ein paar knorrige Sätze, wann die Kuh wohl kalbt, dass der kaputte Steinzaun geflickt werden muss oder wann jemand auf den Viehmarkt soll. Nach einem Schlaganfall kann der Vater kaum mehr laufen. Die gesamte Verantwortung lastet auf Johnnys Schultern. Bei der gemeinsamen Schufterei lernen der Jungbauer und der Hilfsarbeiter sich von neuen Seiten kennen. Blicke und Gesten ersetzen die fehlende Sprache, doch irgendwann wälzen die beiden sich dennoch im Schlamm. Sex ist einfacher als viele Worte.

Aus diesem aufs Wesentliche reduzierten filmischen Konzept entwickelt sich langsam eine ungewöhnliche Liebesgeschichte. Johnny löst sich allmählich aus seiner emotionalen Erstarrung, weil Gheorghe ihn dazu zwingt. Einmal steht der auf einer Felskuppe, blickt über das Land, sagt «Schön hier», als sei er eben aus einem langen Schlaf erwacht und sehe die Schönheit seiner Heimat zum ersten Mal. Mit Zärtlichkeit kann Johnny zunächst nicht umgehen, aber dann ist es zu spät, Liebe kommt ins Spiel, und er muss sich entscheiden, was er will. Zumal auch noch Johnnys Vater mit einem zweiten Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert wird und noch mehr Arbeit sie alle herausfordert.

Alec Secareanu und Josh O’Connor als Gheorghe und Johnny

Sehr persönlich und dennoch allgemein menschlich

Nach Schauspielerausbildung, Theater-, Fernseh- und Filmarbeiten und vier Kurzfilmen realisierte Francis Lee seinen ersten Spielfilm, der an mehreren Festivals Preise erhielt. Was hat ihn zu dieser Geschichte inspiriert? «Zum einen war es die Landschaft, denn ich bin selbst in den abgelegenen Pennine Hills im nordenglischen Yorkshire aufgewachsen. Zum anderen habe ich damals gerade versucht, das Schwierigste, was mir bis dahin passiert war, zu verstehen: mich zu verlieben und mich selber so weit verletzlich zu machen, um lieben und geliebt werden zu können.» Ob es dabei um eine schwule, lesbische oder heterosexuelle Liebe gehe, sei zweitrangig, meint er. «God’s Own Country» sei ein klassisches Entwicklungsdrama, es zeige die schwierige Orientierungsphase eines jungen Menschen im Gestrüpp von familiärer Verpflichtung, heimatlicher Verbundenheit und eigenem Wollen. Weil Lee die schwule Liebesgeschichte als selbstverständlich behandelt, entwickelt sie eine grosse soziale Sprengkraft.

Lee kennt das Leben in diesem Landstrich aus eigener Erfahrung. Der Bauernhof seiner Eltern liegt nur zehn Minuten vom Ort des Drehs entfernt. Lee blieb beim Drehbuch und auf dem Set, so erzählt er, immer ganz nah an seinen Helden, beobachtete jeden Handgriff, jeden Blick. Mit der Handkamera geht auch der Kameramann Chris Wyatt auf Tuchfühlung, schwenkt nur selten über die nebelverhangene Landschaft. Keine Musik lenkt vom Geschehen ab, stattdessen modelliert das ausgeklügelte Sound-Design von Anna Bertmark aus Vogelgezwitscher, röhrenden Traktoren und heulendem Wind, auch abseits des Bildraums, ein Leben inmitten einer unnachgiebigen Natur.

Am Ende eines langen Weges

So breit und gross ist das Leben!

Der Film pendelt zwischen Extremen: abstossend und anziehend, hart und weich, sexuell und asexuell, provokativ und selbstverständlich, ausgelebt und verdrängt, ruhig und hektisch, verzweifelt und hoffnungsvoll. Diese breite Spanne der Gefühle, Stimmungen und Gedanken, die den Film prägt, ist eine seiner Qualitäten: So breit und so gross ist das Leben! Er sprengt damit radikal die Beschränktheit und Enge der Bürgerlichkeit, Korrektheit, Wohlanständigkeit, Konformität – wie jede Kunst, die Reglementierung und Kodifizierung des Lebens in Politik, Justiz, Religion sprengt. «Unter dem grauen Schleier von ruralem Realismus», schreibt die «Irish Times», «liegt ein magischer Film, einer der besten dieses Jahres.» In Grossbritannien ist «God’s Own Country» der erfolgreichste Independent-Arthouse-Kinostart seit Jahren gelungen.

Ein zufälliges Zusammentreffen, das zum Nachsinnen anregt, gab es an der Berlinale 2017. Dort lief «God’s Own Country» gleich neben «Una mujer fantástica». Zwei Filme, die Gemeinsames haben und sich ergänzen: Der chilenische handelt von Marinas Liebe als Genderfrau, der englische von der Liebe eines Homopaares. Beide loten die Möglichkeiten, Grenzen und Unmöglichkeiten besonderer Formen der Liebe aus. Vielleicht ist es an der Zeit, schwule Liebesgeschichten schwule Liebesgeschichten sein zu lassen, und sich für die so spezifischen Themen genau so wenig zu entschuldigen, wie «God’s Own Country» es tut.

Regie: Francis Lee, Produktion: 2017, Länge: 104 min, Verleih: Look Now

Ab 16. November im Kino

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