Vom guten Sterben

Selbstbestimmt in den Tod: Mit dem Gifttrank oder mit terminalem Fasten. Albert Wettstein, Dozent am Zentrum für Gerontologie der Universität Zürich, klärt auf.

„Ich kann doch Mama nicht verdursten lassen,“ wenden Pflegeheimbesucher ein, wenn ihre Mutter – sehr alt, pflegebedürftig, sterbewillig und dement – nicht mehr essen und trinken mag oder auch wegen Schluckbeschwerden nicht mehr kann. Wurde vor Jahren in solchen Fällen schnell eine Magensonde gesteckt, hat sich die Praxis heute geändert: „Viele alte Menschen werden gequält,“ sagt Albert Wettstein zur künstlichen Ernährung Sterbewilliger.

Albert Wettstein

Von 1983 bis zu seiner Pensionierung 2011 war Albert Wettstein Chefarzt des Zürcher stadtärztlichen Dienstes. In seiner Amtszeit wurde der begleitete Freitod in Alters- und Pflegeheimen legalisiert. Wettstein wurde während seiner Amtszeit oft an ein Sterbebett gerufen: „Ich erlebte immer wieder, dass todeswillige alte Menschen aufhörten zu essen und zu trinken.“ Das führe zu einem „guten Sterben“, sagt er, Infusionen seien „für die Angehörigen“. Wie bitte? Dürfen wir unsere Väter, Mütter, todkranke Geschwister verhungern und verdursten lassen? Der Hungertod sei ein Tabu, „weil wir das Bild vom Verdursten im Rettungsboot auf dem Meer oder in der Wüste in uns tragen,“ sagt Wettstein.

In Heimen ist die nationale Palliativ-Strategie des Bundesamts für Gesundheit heute Standard. Dabei geht es darum, die Lebensqualität für sterbende Menschen zu verbessern. Das kann bedeuten, dass keine lebensverlängernden Massnahmen eingesetzt werden, wenn sie nicht ausdrücklich erwünscht sind, dass keine weiteren Operationen ausgeführt werden, sondern das Leiden gelindert wird, so dass ein gutes Sterben möglich wird (s. Beispiel Pistole). Viele von uns erinnern sich, dass sich ihr Vater oder ihre Tante oder Grosstante zuhause oder im Pflegeheim sterbewillig und schwach für das terminale Fasten entschieden, ohne dass es benannt wurde.

Lovis Corinth: Vater Franz Heinric Corinth auf dem Krankenlager 1888

Alte Menschen essen und trinken irgendwann von sich aus nicht mehr genug. So werden sie immer schwächer, wollen nicht mehr aufstehen, liegen nur noch und warten auf den Tod. Eine Komplikation, häufig eine Lungenentzündung oder eine andere Infektion, bedeute dann den Anfang vom Ende, sagt Albert Wettstein: „Dann sollten keine Sonden mehr gelegt werden, sondern vor allem für Schmerzlinderung und Wohlbefinden so weit möglich gesorgt werden.“

Das Lebensende rückt in immer weitere Ferne, weil wir gesünder leben können als unsere Vorfahren, weil wir einer Generation angehören, die hierzulande in Frieden und Wohlstand lebt, und weil die Gesundheitsversorgung und der medizinische Fortschritt in den letzten Jahrzehnten das Leben nicht nur verlängerten, sondern auch lebenswerter machten. Künstliche Gelenke halten Berggänger fit und fröhlich, viele Infektionskrankheiten sind heilbar, mit chronischen Krankheiten und Krebs ist immer öfter ein langes Leben möglich. So erreicht der Durchschnitt der Gesellschaft ein biblisches Alter. Die Aussicht, dement zu werden oder körperlich behindert, ist mit Ängsten verbunden: Niemand will pflegebedürftig und abhängig werden, niemand will seinen freien Willen abgeben müssen, niemand will, dass andere für ihn entscheiden.

Demente alte Frau im Pflegeheim. Quelle: pixabay.com

Mitglied bei einer Sterbehilfsorganisation wie Exit zu werden und damit ein Ticket für den begleiteten Freitod zu lösen, scheint daher die Lösung zu sein. Der Verein Exit ergänzte in diesem Mai seine Statuten insofern, als der Altersfreitod auch möglich ist, wenn jemand nicht todkrank oder schwer leidend ist. Zur Zeit hat Exit über 70’000 Mitglieder, zwei Drittel besitzen die angebotene Patientenverfügung. Jährlich begleitet Exit wenige hundert schwerkranke Frauen und Männer in den Tod. Für den in den Statuten festgeschriebenen Freitod auch gesunder Sterbewilliger im hohen Alter brauche es noch eine Gesetzänderung, heisst es auf der Exit-Homepage.

Albert Wettstein empfiehlt Sterbefasten für kranke Hochbetagte als sanftes Mittel, sofern die Pflege-Bedingungen stimmen. „Es muss der bewusste Wille da sein, ‹jetzt will ich sterben›. Wer – bereits geschwächt – nicht mehr isst und trinkt, stirbt binnen zehn Tagen plus-minus sieben,“ sagt Wettstein und nennt ein Beispiel: „Ich hatte eine krebskranke Patientin mit Metastasen im ganzen Körper. Sie war sehr gut betreut von Angehörigen und Freunden. Sie wollte selber bestimmen, wann sie sterben will.“ Auch Wettstein trägt eine Patientenverfügung auf sich. Darin steht gemäss einem Interview mit dem Tages-Anzeiger, „dass ich im Fall einer irreversiblen schweren Behinderung nach einem Unfall oder etwas Ähnlichem auf die künstliche Zufuhr von Flüssigkeit und Beatmung verzichten will.“

Vorerst ist Wettsteins Terminkalender jedoch voll, und seine Freude am Leben ungetrübt. Immer wieder hält er Vorträge zum guten Sterben. Es geht ihm dabei nicht darum, das terminale Fasten gegen den begleiteten Selbstmord mit Pentobarbital auszuspielen: „Exit ist für bestimmte Menschen die richtige Lösung. Es ist ein schneller Weg, den Machertypen für sich wüschen. Aber es ist relativ hart, das Rezept, dann den Termin zu bekommen.“ So werden viel mehr Rezepte für das Gift ausgestellt, als am Ende gebraucht werden. Beim Nahrungsverweigern dagegen könne man sich auch umentscheiden, wieder trinken und essen. Die schlechte Lösung sei mit der Sonde im Magen auf den Tod warten zu müssen.

Giovanni Segantini: Bildnis eines Toten 1886

Für Albert Wettstein ist eine Entscheidung der nationalen Ethik-Kommission besonders wichtig: Auch schwer Demenzkranke sind urteilsfähig, ob sie den Mund öffnen und Nahrung aufnehmen wollen oder ob sie Essen und Trinken verweigern. Das soll respektiert werden (s. Beispiel En Guete). Eine Untersuchung aus dem amerikanischen Bundesstaat Oregon (s. Studie) , wo der assistierte Suizid von Schwerkranken – wie hierzulande – erlaubt ist, kommt zum Schluss, dass gute palliative Pflege und der Verzicht auf Nahrung zu einem sanfteren, natürlicheren Tod führe. In der Sterbephase wird das Bewusstsein getrübt, der Sterbende kommt ins Delir. Das kann vor allem für die Angehörigen schwierig werden (Schreien, Wegschicken vom Totenbett etc). Die Gabe von Morphium kann in dieser Situation beruhigen und entspannen.

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