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Ästhetische Distanzierung

Der Volksmund sagt, auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil. Aber appelliert diese Methode an die Vernunft?

Etwa vor zwanzig Jahren begann die politische Sprache unbedachter und geschmackloser zu werden. Da war ein Bundesrat plötzlich nur noch ein halber. Ein Parlamentarier, der die EU für ihre Verdienste lobte, sich nicht etwa für den Beitritt, aussprach, wurde als Verräter bezeichnet. Die Plakate wurden düsterer. Die Schweiz wurde als gerupftes Huhn dargestellt. Messerstecher schielten bedrohlich von den Plakatwänden. Lega-Präsident Bignasca griff Bundespräsidentin Ruth Dreifuss als Sex-Girl an und brachte sie, in der Figur verstellt, auf die Titelseite seines Gratisblatts. Geschmacklosigkeit äusserte sich in Sprache und Bild. Einem Chefredaktor gegenüber bemängelte ich den Sprachstil. Seine Antwort war kurz und knapp, der Stil sei kein politisches Thema. Meine Antwort, der Stil sei auch Inhalt, liess er nicht gelten. Ich fragte mich, ob die Bildsprache der Schmähung und Diffamierung nicht auch Inhalt wären, und blieb überzeugt, dass die diffamierende Sprache politischer Inhalt ist.

Ich schrieb das Buch „Lust an der Politik“, und verlangte mehr Anstand, einen Stil, der nicht verletzt und Vernunft in der politischen Debatte. Dabei bemerkte ich, dass dieser Appell lautlos verhalte. Bald nahm ich wahr, dass die scharfe Verurteilung der Geschmacklosigkeit den bekannten „backfire effect“ nach sich zog. Der jeweils Zurechtgewiesene fand nur noch mehr Aufmerksamkeit. Also überlegte ich, wie die Geschmacklosigkeit zu bekämpfen wäre. Ich kreierte den Begriff des „ästhetischen Widerstandes.“ Mit „Hau den Lukas“ und einem gezielten Hammerschlag auf den Nagel stärkt man eher den Gegner. Die gefühlte Meinung bleibt verfestigt. Ergo, wollte ich eine bessere Methode finden.

Von da an schrieb ich Kolumnen und Leserbriefe nach dem Prinzip der „ästhetischen Distanzierung“. Wie hätte ich vorgehen müssen, als Bundesrätin Simonetta Sommaruga abwertend als Klavierspielerin diffamiert wurde, in der Meinung, sie sei als solche ihrem Amt nicht gewachsen. Einmal wurde sie in einer Arena-Sendung von einem Gegner, mit abweisender Gestik spöttisch „diese Klavierspielerin da“ genannt und mehr oder weniger des Nicht-Wissens bezichtigt. In meiner ästhetischen Distanzierung wäre es verfehlt gewesen, den Angreifer einen groben Klotz zu nennen. Ich korrigierte, was herabsetzend an der Behauptung war. Sommaruga sei nicht einfach Klavierspielerin, sondern Konzertpianistin. Bei dieser sehr anspruchsvollen Ausbildung seien beide Hirnhälften gefragt, nicht nur eine. Das führe zu einem ganzheitlichen Denken mit Übersicht und keineswegs zu einem eindimensionalen. Wir wissen heute aus hirnphysiologischen Studien, dass Besserwisser meist nur mit einer Hirnhälfte denken

Diese „ästhetische Distanzierung“ führte jüngst Benedict Neff (NZZ, 29. 08) auf das Allerschönste bei einer Entgleisung des AfD Vizechefs Alexander Gauland vor. Dieser sagte, die Bundesministerin für Integration, Aydan Özoguz, müsse man nach „Anatolien entsorgen“. Das heisse eigentlich, sie sei Müll, führte Neff aus. Er analysierte aber auch Aussagen der Gegner, die ebenfalls die Grenze des guten Geschmackes und des noch tolerierbaren Anstandes überschritten hatten. Etwa die Bemerkung eines SPD-Politikers, Gauland sei ein „widerlicher seniler Hetzer“. Der„Tagesspiegel“ reagierte: „So klingen Worte von Unmenschen.“ Das Nachfragen, was die Worte bedeuten, folgt dem, was ich die „ästhetische Distanzierung“ nenne. Sie entlarvt die Geschmacklosigkeit von politischen Kontroversen, ohne selber zu diffamieren. Sie vermeidet die Methode „auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil“.

Ein Gegenangriff nach dieser harten Methode blockiert die Emotionen, verfestigt die eigene Meinung und verhindert, dass ein vernünftiger Diskurs entsteht. Wo die Vernunft ausgeschaltet ist, kommt es zu keiner Lösung. In den Gefühlen ist immer auch die Vernunft tätig. Sie gilt es anzusprechen. Ein Weg dazu sind Fragen. Ein Meister des Fragens war Sokrates. Seine Fragetechnik wird als Hebammenkunst gelobt. Er nahm seine Gesprächspartner solange in die Mangel, bis sie erkannten, dass sie Unwahres behauptet hatten. Fragen zwingen zum Nachdenken, appellieren an die Vernunft. Was verstehst du unter Entsorgen? Meinst du wirklich, die Frau Ministerin sei Müll? Was glaubst du, wie lange jemand übt, bis er Konzertpianist ist? Kannst du dir nicht vorstellen, dass sich die Sorgfalt für das musikalische Detail nicht auch in der Dossierkenntnis niederschlägt? Zählt im politischen Diskurs nicht das bessere Argument? Wer so fragend den Gegner in Distanz hält, bietet keine offene Flanke für einen Gegenangriff. Die Vernunft stoppt ihn, weil er auf Fragen dieser Art keine Antwort hat. Wut hilft ihm da nicht aus der Patsche.

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