StartseiteMagazinGesellschaft"...über das Leben nachdenken wollen"

«…über das Leben nachdenken wollen»

Einsamkeit ist eine Frage der Perspektive. Den Abschluss unserer Sommerserie bildet ein Gespräch mit Rosmarie Meier, Leiterin Alterszentrum Bürgerasyl-Pfrundhaus in Zürich.

Joseph Auchter: Einsamkeit ist erst einmal keine Altersfrage, aber sie akzentuiert sich zweifellos, wenn das traute Zuhause mit einem Platz im Altersheim eingetauscht wird, Lebenspartner und liebgewordene Freunde und Bekannte wegsterben und eine Neuorientierung ansteht. Wie gehen Sie im Alterszentrum Bürgerasyl-Pfrundhaus mit dieser Begleiterscheinung um?

Rosemarie Meier: Je älter man wird, desto mehr ist man mit Verlusten von Freunden und Bekannten konfrontiert. Das kann tatsächlich zu Einsamkeitsgefühlen führen. Der Vorteil vom Wohnen und Leben in einem Altersheim besteht ja gerade darin, dass man jeden Tag Menschen um sich herum hat. Menschliche Nähe und soziale Kontakte sind in jedem Lebensalter sehr wichtig. Aber wenn man älter wird, hat man oft nicht mehr die Kraft und Energie, neue Beziehungen zu knüpfen. Wir alle, die hier im Altersheim leben oder arbeiten, empfinden uns als eine Gemeinschaft.

Es gibt manchmal sehr enge Beziehungen sowohl untern den BewohnerInnen wie auch zwischen ihnen und uns, den MitarbeiterInnen. Der Vorteil ist, dass Bewohner sich in ihr Appartement zurückziehen können, wenn sie allein sein wollen, oder sie können in die Cafeteria gehen oder in den Garten und andere Leute treffen. Im Laufe meiner Arbeit im Altersheim habe ich gelernt, dass es etliche ältere Menschen gibt, die gerne alleine sind. Sie schätzen den Rückzug und die Stille, weil sie über das Leben nachdenken wollen. Und sie wissen, dass sie jederzeit wieder unter die Leute gehen können, wenn sie das Bedürfnis dazu haben.

Alterszentrum Bürgerasyl-Pfrundhaus: umsorgt und verwöhnt im Herzen der Stadt Zürich

Wie zeigt sich heutzutage   die Altersstruktur in schweizerischen Alterszentren? Inwiefern unterscheidet sich Ihre Heimstätte von anderen?

Das Durchschnittsalter bei uns im Alterszentrum liegt bei gut 87  Jahren. Bei allen Alterszentren der Stadt Zürich – es gibt davon 24 – ist das mehr oder weniger ähnlich. Unsere älteste Bewohnerin ist 103jährig, die jüngste Bewohnerin ist 66jährig. Der Anteil Frauen liegt bei rund 75%, derjenige der Männer bei 25%.

Wie begegnen Sie der Einsamkeits-Tendenz von Mitbewohnern? Wodurch unterscheiden sich diesbezüglich Frauen von Männern? 

Die meisten Bewohnerinnen und Bewohner pflegen und gestalten ihre Beziehungen selbständig. Vor allem bei älteren Menschen mit starken Seh- und Hörschwierigkeiten versuchen wir zu helfen, damit sie trotz Einschränkungen Kontakte knüpfen können. Viele Bewohnerinnen und Bewohner haben regelmässige Kontakte mit Angehörigen oder Bekannten. Oftmals geht das Leben ja weiter wie vor dem Eintritt ins Altersheim: Die Leute gehen in die Stadt, gehen einkaufen, treffen sich mit jemandem, gehen ins Kino oder ins Konzert. Ich höre oft von unserer Bewohnerschaft, dass wir für sie wie eine Familie sind, das heisst, sie nehmen Anteil am Leben von uns Angestellten, wollen wissen, wie es den Kindern geht oder wohin wir in die Ferien fahren.

Vielleicht fällt es Frauen manchmal etwas leichter, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, weil es eher zur Rolle der Frau gehört, die sozialen Kontakte zu pflegen.

Welche positiven Erfahrungen machen Sie mit Freizeitangeboten? Wie gross ist die Palette von ermunternden Angeboten?

Wir bieten viele Möglichkeiten an, wo Leute sich treffen und zusammen etwas machen können. Zum einen haben wir Angebote wie Gartenclub, Fitnesstraining, Gedächtnistraining, Malgruppe, Lesezirkel oder Handwerken, wo die Bewohnerinnen und Bewohner meist über längere Zeit mit den gleichen Personen in einer Gruppe sind. Dort lernen sich die BewohnerInnen kennen, und es entstehen auch Freundschaften. Gerade wenn Leute neu ins Alterszentrum ziehen, sind das gute Möglichkeiten, andere Menschen kennenzulernen. Dann haben wir zahlreiche öffentliche Veranstaltungen wie Konzerte, Vorträge oder Lesungen. Auch unsere prächtigen Gärten sind Begegnungsorte. Einige BewohnerInnen arbeiten regelmässig im Garten oder schauen zu unseren Hühnern.

Letzte Woche gerade haben wir das Frühstück auf unserer herrlichen Terrasse angeboten. Die BewohnerInnen geniessen es, ab und zu auch mal neben jemand anderem zu sitzen. Dann gibt es bei uns auch verschiedene festliche Anlässe, wie zum Beispiel wieder am 01./02. September das Piazza-Fest mit integriertem Flohmarkt. Viele BewohnerInnen arbeiten aktiv mit und stehen zum Beispiel hinter den Ständen am Flohmarkt und verkaufen Waren.

Rosemarie Meier, Leiterin des Alterszentrums, beim Ausspannen am See

Falls eine Person sich offensichtlich abschottet, altersdepressiv wird oder psychologische, ärztliche oder seelsorgerische Hilfe benötigt, welch geeignete Hilfestellungen können Sie dabei anbieten?

Wenn wir merken, dass sich jemand zurückzieht oder  verändert, versuchen wir in einem direkten Gespräch herauszufinden, wie es der Person geht und ob wir helfen können. Manchmal sind es auch Einschränkungen der Seh- und Hörfähigkeit, die zum Rückzug von Menschen führen. Je nachdem treten wir mit den Angehörigen in Kontakt, mit dem Hausarzt oder mit dem Seelsorger unserer beiden Pfarreien. Wenn immer möglich versuchen wir aber nicht ohne das Einverständnis der betroffenen Person etwas zu unternehmen.

Ein Alterszentrum ist ja auch ein soziales Biotop mit unterschiedlichsten Wertvorstellungen, Lebensentwürfen und Schicksalen. Wie können Sie den diversen Ansprüchen und Vorstellungen gerecht werden? Wann hat altersgerechte Betreuung Vorbildcharakter? 

Vor kurzem hat mir eine Bewohnerin gesagt, sie hätte sich niemals vorstellen können, dass sie im hohen Alter noch so viele verschiedene Menschen kennenlernt. Tatsächlich sind wir eine tolle Mischung von verschiedensten Menschen mit unterschiedlichem sozialem und kulturellem Hintergrund. Ich führe einmal im Monat mit den BewohnerInnen ein sogenanntes Rundgespräch durch. Dort reden wir über unser Zusammenleben, was gut läuft und was weniger.

Unsere Mitarbeitenden kommen aus über 20 verschiedenen Ländern. Da gibt es schon manchmal unterschiedliche Wertvorstellungen. Das braucht viel Toleranz und Interesse am anderen Menschen. Etliche unserer BewohnerInnen helfen zum Beispiel unseren jungen Lernenden – wir haben etwa 15 Lernende im Bereich Pflege, in der Hotellerie, in der Küche und in der Hauswartung – , wenn sie Probleme mit der deutschen Sprache haben. Das führt oft zu sehr guten Beziehungen zwischen jung und alt und fördert eine gute und offene Atmosphäre in unserem Haus.

Frau Meier, ich bedanke mich für den erhellenden Einblick in Ihr Tätigkeitsfeld.

 

Zur Person von Frau Rosmarie Meier:  Geb. 21.01.1955

Lic.phil.I, Studium der Soziologie und Philosophie1981 bis 1984: Assistentin am soziologischen Institut der Universität Zürich (Forschung zum Thema „Gesundheit und Krankheit im Alltag“)

1985 bis 1996: Freischaffende Soziologiedozentin

1997 – 2003: Rektorin des WE’G (Weiterbildungszentrum für Gesundheitsberufe des SRK in Aarau)

2004 – 2006: Studium der Gerontologie an der Universität Erlangen

Seit 2006: Leitung des Alterszentrum Bürgerasyl-Pfrundhaus in Zürich

 

                                                                   *

Rund 1,2 Millionen Menschen in der Schweiz sind über 75 Jahre alt. Davon fühlt sich jeder Dritte laut einer Gesundheitsbefragung des Bundesamts für Statistik häufig oder manchmal einsam. Unter dem Titel «Einsamkeit» veröffentlicht die Seniorweb-Redaktion bis Mitte August eine Serie zur Einsamkeit im Alter mit hilfreichen Hinweisen und Tipps, wie Sie Ihr Beziehungsnetz ausweiten, sich mehr engagieren und wo Sie Hilfe holen können.

Links zu bereits erschienenen Beiträgen:

– Einsam und allein . . . (Fritz Vollenweider)

– Einsamkeit gehört zum Alter (Judith Stamm)

– Macht Facebook einsam? (Josef Ritler)

– Raus aus der Isolation (Bernadette Reichlin)

– Fundstücke zum Thema (Eva Caflisch)

– Nachbarschaftshilfe fürs Wohlbefinden (Susanna Fassbind)

– Rückzug in die Einsamkeit (Maja Petzold)

 Unter Menschen kommen (Linus Baur)

 

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