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Aus dem Osten in den fernen Westen

Keine Wildwestromantik, kein Fernostmärchen – Xiaolu Guo schreibt in «Es war einmal im fernen Osten» nüchtern über ihre eigene Kindheit und Jugend.

Die Grossmutter hatte die Fünfjährige zu einem Tao-Mönch in ihrem Wohnort, einem Fischerdorf im Südosten Chinas, gebracht. Xiaolu war klein und mager, deshalb machte sich die Grossmutter Sorgen – obwohl sie in ihrer Armut gar nicht mehr und nichts Besseres hätte auftreiben können. Der Tao-Mönch beruhigte sie: Das Mädchen sei eine Bauernkriegerin, werde die Meere befahren und die neun Kontinente bereisen. Die Grossmutter fühlte sich überhaupt nicht beruhigt, sie konnte sich darunter ebenso wenig vorstellen wie die kleine Xiaolu selbst. Diese war zunächst unbeeindruckt, denn sie glaubte dem Mönch nicht, aber sie behielt den Spruch in Erinnerung.

Welch ungeheurer Umbruch sich in den letzten vierzig Jahren in China ereignet hat, lässt sich bei der Lektüre von Es war einmal im Fernen Osten nachverfolgen. Xiaolu Guo, Filmemacherin und Schriftstellerin, beschreibt in diesem Buch ihre Kindheit und Jugendzeit in China und ihren Weg nach England, wo sie seit mehr als fünfzehn Jahren lebt und arbeitet. Eine ‹Kriegerin› wurde sie in dem Sinne, dass ihr nur weniges in den Schoss fiel; ihre Lust, in die Welt zu ziehen, wurde jedoch im Laufe ihrer Jugend immer grösser. In ihrem Drang auszubrechen, wurde sie nur von ihrem Vater unterstützt, der fürs Malen von Propagandaplakaten bezahlt wurde, in seiner freien Zeit aber traditionelle Bilder malte, was offensichtlich ab ca. 1980 wieder möglich war, und womit er sich etwas Geld dazuverdienen konnte.

Die Autorin auf der Frankfurter Buchmesse 2009 © Immanuel Giel / commons.wikimedia.org

Nach ihrer Geburt wurde Xiaolu an Pflegeeltern abgegeben, einem Bauernpaar, das in jenen Jahren so arm war, dass die Kleine vernachlässigt wurde. So kam das Mädchen zu den Grosseltern ins Fischerdorf Shitang. Die Grosseltern waren Analphabeten, der Grossvater, vollkommen verbittert und stets übellaunig, hatte seine Selbständigkeit als Fischer verloren, im Zuge der Kollektivierung hatte er sein Boot abgeben müssen. Die Grossmutter stammte aus einer Bauernfamilie, sie hatte ‹gebundene› Füsse, konnte also nur unter Schmerzen und nur kurze Strecken laufen, auch sie eine erschöpfte, freudlose Frau. Rückblickend ist der Autorin klargeworden, dass unsere proletarische Herkunft tatsächlich antikapitalistisch war, doch sie war auch ziemlich gnadenlos.

Als das Mädchen sieben Jahre alt war, holten ihre Eltern sie zu sich. Die Busfahrt nach Wenling dauerte zwölf Stunden, und Xiaolu war während der ganzen Fahrt übel. Dort erfuhr sie, dass sie einen zwei Jahre älteren Bruder hatte. Von diesem wie von ihrer Mutter fühlte sie sich nicht akzeptiert, die Mutter war bei den Roten Garden gewesen, aber Analphabetin geblieben und verhielt sich ihrer Tochter gegenüber sehr grob. Nur bei ihrem Vater fand sie Schutz und Anerkennung. Er hatte Shitang verlassen und war Lehrer geworden, wurde dann allerdings als Intellektueller in ein Arbeitslager verbannt. Er hatte einen weiten Horizont, unterstützte und förderte seine Tochter vor allem in ihren künstlerischen Ambitionen. Schon früh hatte Xiaolu begonnen, Essays und Gedichte zu schreiben, von denen einige sogar in Zeitungen gedruckt wurden. Vor allem für die moderne amerikanische Literatur interessierte sie sich. Und ganz wichtig: Sie lernte Filme kennen – der Titel spielt darauf an.

Die Autorin schreibt schnörkellos und genau über das Leben in einem chinesischen Wohnhof, über die Schule und über ihre sexuellen Erfahrungen. Sie meint, Missbrauch, wie sie ihn erleben musste, sei damals sehr verbreitet gewesen. Nach allem, was sie berichtet, wundert es nicht, dass Sexualität für sie noch sehr lange ein heikles Thema mit vielen Abstürzen bleibt.

Nach Abschluss der Schule gelang es Xiaolu – wieder mit moralischer und praktischer Unterstützung ihres Vaters – im zweiten Anlauf, einen der seltenen Plätze an der Pekinger Filmakademie zu ergattern. Nun lebte sie zwar in einem streng geführten Studentinnenheim in Peking, damals drei Tagesreisen von Wenling entfernt, aber sie fühlte sich frei. Sie nahm alle Anreize auf, machte sich in der Welt der Künste mit allen neuen Trends vertraut. Sie hatte von alternativen Künstlern gehört, die in kommuneähnlichen Gemeinschaften am Stadtrand in der Ödnis lebten und bisweilen von der Polizei verfolgt wurden. Eigentlich hatte Xiaolu über diese ‹Hippie-Künstler› einen Dokumentarfilm drehen wollen, was aus politischen Gründen unmöglich war. Im Gespräch mit ihnen hörte sie, dass sie Besuch von einem Schweizer Händler gehabt hatten, der ihre Bilder in grossem Stil gekauft hatte. – Ein Schweizer, der junge chinesische Untergrundkünstler unterstützte, wer anders als Uli Sigg hätte das sein können, aus dessen Sammlung das Berner Kunstmuseum schon zwei Ausstellungen gezeigt hat.

Nach Abschluss der Hochschule konnte die junge Filmerin nicht in der Weise arbeiten, die sie anstrebte. Sie konnte wiederum aus Gründen der Zensur nur Drehbücher schreiben. Deshalb empfand sie es als grosse Chance, als sie ein Stipendium für einen einjährigen Aufenthalt in Grossbritannien erhielt. Die Ankunft in London 2002 war ein weiterer totaler Neuanfang in ihrem Leben. Die Sprache war zunächst die grösste Hürde. Sie sprach Englisch so schlecht, dass sie nicht einmal verstanden wurde, wenn sie sagte, sie sei Künstlerin. Anfangs empfand sie das Leben in Grossbritannien als Kulturschock, und sie, die auch in China oft genug allein gewesen war, musste hier eine Zeitlang gegen ihre Vereinsamung kämpfen.

Wer sich aufs Filmemachen versteht, kann offensichtlich auch realistisch schreiben. Dieses Buch ist ein gutes Beispiel: eine bis zum Schluss spannende, am Leben der Autorin orientierte Erzählung. – Wohlgemerkt: Yiaolu Guo schreibt Englisch, ihre Werke werden aus dem Englischen, nicht dem Chinesischen übersetzt! Die Autorin hat inzwischen in Europa ihren Platz gefunden. Einladungen führten sie u.a. nach Deutschland und in die Schweiz. Sie hat viele Filme gedreht, einer ihrer grössten Erfolge war 2009 der Gewinn des Goldenen Leoparden in Locarno für She, a Chinese. Auch ihre anderen Bücher fanden Anerkennung.

Xiaolu Guo: Es war einmal im Fernen Osten. Ein Leben zwischen zwei Welten. Aus dem Englischen von Anne Rademacher.
Knaus Verlag 2017. 366 Seiten.
ISBN 978-3-8135-0769-0

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