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Blick zurück in die Moderne Teil II

Reformpädagogik, ungewöhnliche Wirtschaftskonzepte, alternative Wohngemeinschaften, Nudisten-Camps – all das entstand im Umkreis der vielschichtigen Bewegung der Lebensreformer.

Der industrielle Fortschritt und im Gegenzug der sich ausbreitende Sozialismus der Arbeiterbewegung dominierten die Gesellschaft um 1900. Gleichzeitig entwarfen die Lebensreformer Kontrastvorstellungen, die sich nicht nur auf Leben und Gesundheit des einzelnen bezogen, sondern ebenfalls die Gesellschaft im Ganzen verändern sollten. Diese Ideen konnten ihren Nischenplatz nie verlassen, sie gingen aber auch nie vollkommen vergessen und lebten mit der New-Age-Bewegung und den Grünen wieder auf.

Auf einige Facetten dieser Lebensreform soll hier ein Blick geworfen werden.

Rhythmisch-musikalische Pädagogik als Basis der Erziehung

Émile Jaques-Dalcroze, Sohn eines Genfer Uhrmachers, gehört zu den bemerkenswertesten Pionieren nicht nur in Musik und modernem Tanz, sondern in der Reformpädagogik allgemein. Er schuf die rhythmische Erziehung («Rhythmische Gymnastik, motorisch-musikalische Elementarlehre»), lehrte sie zuerst in Berlin und Dresden, bis er zu Beginn des 1. Weltkriegs zurück nach Genf ging. Dort besteht sein Institut heute noch als Teil der Fachhochschule der Künste. Die Seniorenrhytmik ist eines seiner «Kinder».
Jaques-Dalcroze baute auf der Erkenntnis auf, dass musikalische, physische und emotionale Erfahrungen miteinander verbunden sind und den Menschen ganzheitlich beeinflussen. Seine vielfältigen Übungen in Rhythmik und Improvisation bewirken eine Differenzierung und Verfeinerung der künstlerischen Darstellung. Zudem fand er heraus, dass die Rhythmik sich im pädagogischen Prozess und im sozialen Lernfeld sehr positiv auswirkt. Seine Arbeit wurde von so bekannten Reformpädagogen und Musikern wie Carl Orff oder Alexander Sutherland Neill (Summerhill) weitergeführt. Die auf seiner Lehre basierenden Unterrichtsformen und Inszenierungen zogen damals die europäische Avantgarde an, seine pädagogische und künstlerische Arbeit erreichte Weltgeltung.

Genossenschaften und alternative Siedlungsgemeinschaften

Die künstlerische Avantgarde interessierte sich um 1900 auch für andere alternative Projekte und Lebensformen: Das bekannteste Experiment in der Schweiz war die Gemeinschaft auf dem Monte Verità bei Ascona. Dort trafen sich besonders während des 1. Weltkriegs Künstler wie Hermann HesseHans ArpHugo Ball u. v. a., aber auch Anarchisten wie Graf Kropotkin und Michail Bakunin. Bis in unsere Tage hat der Monte Verità sein Flair behalten.
Andere Siedlungsgemeinschaften entstanden in Österreich und Deutschland, z.B. die 1893 gegründete Obstbau-Genossenschaft Eden bei Oranienburg (Brandenburg), die ein Zentrum für Reformer wurde. Gustav Lilienthal, Bruder des berühmten Flugpioniers, lebte dort. Er war als Baumeister und Sozialreformer am Entstehen einiger alternativer Siedlungen beteiligt.

Die norddeutsche Künstlersiedlung Worpswede ist durch zahlreiche Künstler, z.B. die Malerin Paula Modersohn-Becker, berühmt geworden. Heinrich Tessenow gilt als wichtigster Architekt unter den Lebensreformern. Er baute Gartenstädte, z.B. die Siedlung Hellerau bei Dresden, dort entstand auch ein Zentrum für moderne Kunst, wo Jaques-Dalcroze kurze Zeit lehrte.

Durch den Anstoss lebensreformerischer Ideen bildeten sich viele Genossenschaften, genannt sei hier nur der Zürcher Frauenverein für «Mässigkeit und Volkswohl»  – damals keine schweizerische Spezialität.

 

FKK als Befreiung des Körpers

Als Begründer des «Naturismus» gilt Arnold Rikli aus Wangen a.d.Aare. Er lebte lange im heutigen Slowenien als Naturheiler. Seine Methode nannte er «Atmosphärische Kur», er verordnete seinen Patienten vor allem Licht-, Luft- und Wasseranwendungen. Obwohl Rikli als Naturheiler nicht sehr erfolgreich war, behielt er seinen Ruf als «Sonnendoktor». Seit 1989 wird in den USA von der Light Foundation der Arnold-Rikli-Preis verliehen – eine typische Wiederaufnahme in der New-Age-Bewegung. Karl Wilhelm Diefenbach, ein österreichischer Maler, führte Riklis Licht- und Lufttherapie weiter. Er war mit dem Kreis auf dem Monte Verità eng verbunden und gründete eine eigene Landkommune «Himmelhof» in Ober St. Veit / Wien.

Sich nackt im Freien zu bewegen, empfanden die FKK-Anhänger als Befreiung von einengender Kleidung und ebensolchem Denken. Bei der Gründung der ersten FKK-Camps erregten das Nacktbaden und die Freikörperkultur grosses Aufsehen, ja Empörung. Eines der frühesten Zentren, «die neue zeit» in Thielle NE, verweist mit seinem Namen auf den Geist seiner Begründer. Seitdem hat sich das Verhältnis zu nackter Haut in mancherlei Art grundlegend geändert. Das ist einerseits eine Folge der generell zunehmenden Freizügigkeit in unserer Gesellschaft, andererseits ist es der Mode geschuldet, die mehr und mehr auf Provokation durch weniger Textilien setzt.

 

 

Finanzielle Visionen und alternative Wirtschaftsformen

Johann Silvio Gesell, der Vater der Idee einer «Freiwirtschaft» – jenseits von Kapitalismus und Sozialismus –, bezeichnete sich selbst als Vegetarier und Weltbürger. Er war ein vielseitiger Mann, Kaufmann, Landwirt – er erwarb ein Bauerngut oberhalb von Neuchâtel und bewirtschaftete es – und Finanztheoretiker. Seine Wirtschaftslehre hatte er sich aus Beobachtungen des Wirtschaftsgangs erworben, die er besonders in Argentinien, wo er eine Zeit lang lebte, gemacht hatte. Er gab dem Geld einen anderen Stellenwert: Das «Freigeld» sollte den Menschen dienen, die es benötigten, und nicht denen, die es ansammelten. Das System, Geld für sich «arbeiten» zu lassen, und von den Zinsen zu leben, hielt er für verwerflich.

In seinem Buch «Geld oder Krieg» schreibt er 1912: «Unser Geld bedingt den Kapitalismus, den Zins, die Massenarmut, die Revolte und schließlich den Bürgerkrieg, der zur Barbarei zurückführt. … Wer es vorzieht, seinen eigenen Kopf etwas anzustrengen statt fremde Köpfe einzuschlagen, der studiere das Geldwesen.» (Silvio Gesell, Gesammelte Werke Band 7, S. 170.) – Das grösste Ereignis war wohl die Durchführung eines internationalen «Kongresses der Geld- und Bodenreformbewegung» zu Pfingsten 1923 in Basel.

Als 1929 mit dem Schwarzen Freitag die Weltwirtschaftskrise ausbrach, versuchten einzelne Gemeinden, z.B. Wörgl/Tirol, durch die Einführung der Freiwirtschaft die Folgen zu mildern, wenn nicht aufzufangen. Das gelang aber nur sehr kurzfristig, denn es handelte sich ja nur um sehr kleinräumige Versuche.

Es darf nicht verschwiegen werden, dass einige – nicht alle – Lebensreformer, Deutsche, Schweizer, Österreicher, neben ihren reformerischen Ideen auch völkisch-nationale und rassistische Ansichten vertreten haben. Wer sich mit der ungeheuer vielseitigen Reformbewegung auseinandersetzt, muss also klar unterscheiden, was als zukunftsweisend einzuschätzen ist und welche Einstellungen weder damals noch heute zu tolerieren sind. Trotzdem lohnt es sich, die Ideen der Reformer anzuschauen und auf ihren Wert zu untersuchen.

Wie sich die Ideen der Lebensreform in der Kunst, im Symbolismus, niedergeschlagen haben, zeigt eindrucksvoll die aktuelle Ausstellung im Berner Kunstmuseum «Mythos und Geheimnis».

Die Webseite Lebensreform in der Schweiz befindet sich noch im Aufbau, sie ist dem bekannten Kunstvermittler Harald Szeemann gewidmet.

Der erste Teil «Blick zurück in die Moderne» befasste sich vor allem mit der Reform-Ernährung.

Erst nachträglich entdeckt: DIE ZEIT hat kürzlich ein Heft zu den Themen herausgegeben, die in den beiden Artikeln angesprochen werden. Das Heft «Anders leben» ist gemäss Auskunft der Herausgeber für 5.90 Euro am Kiosk erhältlich.

Bilder (gemäss Reihenfolge im Text):
– Titelbild:  Hans Arp: «Goldflammendes Rad», Monte Verità TI ©anneonearth / wikimedia.org
– Ernst Ludwig Kirchner: Tanzender Frauenakt, Gret Palucca © / wikimedia.org
– Festspielhaus Hellerau © Andreas Praefcke / wikimedia.org
– Als das Freibad aufkam. Zeichnung von Heinrich Zille (1858-1929) © wikimedia.org
– Haus von Silvio Gesell in Buenos Aires (Argentinien) © wikimedia.org

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