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Der mächtige Baum

Ich begegne einem Ahorn wie einem Philosophen

Vor einem gewaltig ausgreifenden Ahorn trinke ich in Gesellschaft gern ein Glas Wein. Er steht am Rand des Dorfes vor einem alten, umgebauten Bauernhaus und überragt dessen Giebel. Dieser Baum ist ein grossartiges Naturdenkmal und dient mir als Symbol für mein Leben. Nicht etwa wegen seiner ausladenden Grösse, sondern wegen des dicken Stamms, der aus dem Wurzelgrund strebend sich in zwei Stämme teilt. Er symbolisiert mir die Zweiheit, die Ambivalenz des Lebens. Die Stämme treiben starke Äste in die Höhe. Diese beiden Bäume sind miteinander im Gespräch, die Blätter und Wurzeln tauschen sich aus. Sie sind Ich und Du, wie jeder Mensch ein Ich ist, das zugleich zu seinem Du spricht. Martin Buber hat in einem sehr schönen Text, in «Ich und Du» notiert, jeder lebe im zwiespältigen Ich. Dieses Ich bleibt dauernd im Zwiegespräch mit seinem Selbst. Am Ende des Lebens mit einer letzten Frage: «Hast du es gut gemacht, mit dem, was dir auf deinen Weg mitgegeben worden ist?»

Das Zwiegespräch, fast eine Lehrstunde des Ahorns, drängt sich mir auf. Der Baum ist wie ein Symbol für die Zwei in mir. Zwei Seelen, Anima und Animus, müssen sich zusammen zu einem Gleichgewicht finden. Die männliche und die frauliche Seite in einem, wie C. G. Jung sie nennt, sollte ein Ganzes werden. Der starke Animus hat beständig den Drang sich ein Übergewicht zu beschaffen. Doch die Anima hält dagegen. Was in dieser inneren Auseinandersetzung wird, ist für mich nirgends schöner abgebildet als im Ahorn. Er leuchtet in den strahlenden Herbstfarben. Im Wechselspiel verfärbt er sich vom hellen Gelb zum dunkleren bis zu einem Braun, das aussieht wie die Flecken auf der Oberfläche meiner Hand. Wie oft sah ich den Ahorn strahlend im Sonnenlicht und genoss in der Hitze seinen Schattenwurf. Nun ist er schütter geworden. Seine Blätter bilden einen bunten Farbteppich zu meinen Füssen. Wenn ich über ihn schlurfe, die Blätter mit den Schuhen leicht aufwerfe, raschelt es unter meinen Füssen und erinnert mich an die Tage der Kindheit, als ich im nahen Buchenwald lustvoll über eine dicke Blätterdecke tanzte.

Immer wenn ich vor dem Ahorn sitze, frage ich mich, wie er es geschafft hat, aus dem tiefen Wurzelgrund, zweigeteilt, zu einem prächtiger Baum zu wachsen? Mitten in seinem Leben hat er sich eine nicht austauschbare Identität erworben. Die beiden Stämme, die sich gegenseitig stützen und mit den Zweigen und Ästen umarmen, halten ihn im Gleichgewicht. Deswegen wirkt er stark und mächtig. Ist er also nicht ein Vorbild für mich? Musste ich nicht ein Leben lang die zwei Seelen in meiner Brust zusammenhalten, damit sie nicht auseinander strebten. Durch das beständig labile Gleichgewicht fühlte ich mich manchmal schwach. Ich sprach zum Ahorn: «Wie hast du es geschafft im Sturm, im Unwetter, bei Hitze und Kälte zu einem zu werden, der allem Unbill getrotzt hat?»

Er verwickelte mich in ein Gespräch, denn plötzlich fragte er mich: «Was blickst du mich so ernst an.»

«Nicht ernst», antwortete ich. «Ich meditiere dich! Wie hast du gemerkt, dass ich mir gerade überlegte, warum sich die Äste der zwei Stämme nicht verstricken, nicht verknäueln?»

Er spöttelte ein wenig und tat, als ob er lachen wollte: «Du, als Demokrat und Kenner dieses Gartens weisst, dass ich frei und stolz aufgewaschen bin. Niemand hat mich in ein Korsett gezwungen. Ich konnte nach meinen Regeln wachsen und gedeihen.«

«Wie kannst du wissen, was ich denke?»

«Das ist ganz einfach. Die Augen strahlen. Sie enthalten eine Botschaft. Ich kann sie entziffern. Es ist wie bei der Gebärdensprache.»

Er fuhr fort:

«Du kennst doch das geheime Leben der Bäume. Liest du nicht das Buch von Peter Wohlleben*. Er schreibt, wie Bäume fühlen, wie sie kommunizieren. Er erforscht die verborgene Welt der Bäume.«

«Ich bin daran, das Buch zu lesen. Bis jetzt weiss ich nur, dass Bäume sich über die Wurzeln, die Zweige und Blätter austauschen. Doch nicht mit den Augen», motzte ich auf.

«Lies einfach weiter!», antwortet er.

Ich dachte nach und erhob den Baum zu meinem Lebensphilosophen mit der einzigen grossen und unfehlbaren Botschaft, dass es im Leben darauf ankommt, sich selbst zu finden. Die Gleichgewichtslage aller Kräfte herzustellen, die im Menschen angelegt sind und nach Verwirklichung trachten. Ein leiser Wind geht durch die Blätter. Einige Vögel tummeln sich in seinem weit ausgebreiteten Geäst. Der Ahorn ist ihnen Haus , vielleicht Heimat, geworden. In ihm lebt ein friedliches Volk. Gleichgewichtslage! Dieser Ahorn ist mir Vorbild, vielleicht ein wenig Abbild.

* Peter Wohlleben. Das geheime Leben der Bäume.  Ludwig Verlag München. 22. Auflage 2015.

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