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Die Entdeckung der Langsamkeit

Wir leben im Modus der Effizienz und des Aktivismus. 

Den Titel habe ich nicht erfunden. Sten Nadolny hat ihn über den Roman gesetzt, der das Leben des John Franklin schildert. Obwohl der Autor auf biographische Daten zurückgreift, nennt er seinen Helden eine Phantasiefigur. Er ist Seefahrer und am Ende des Lebens Nordpolforscher. Im Eis des Nordpols entdeckt er die Langsamkeit. Das Eis zwingt ihn dazu, denn die Schiffe stecken fest. Franklin erleidet einen Herzinfarkt und die ganze Mannschaft verliert das Leben. Wie entdeckt man die Langsamkeit? Geht in meinem Alter nicht ganz natürlich alles langsamer?

Alles muss heute schnell gehen. Wir leben in einer Subito-Gesellschaft. Jüngst erhielt ich die Mahnung eines Freundes, der drei Tage nachdem ich ihn zuletzt gesehen hatte, schrieb: „Hast du mich vergessen?“ Nein, das hatte ich nicht. Ich war auf einer Wanderung über den Höhenweg eines Berges. Ich wanderte langsam und gemütlich, betrachtete auf einer ungedüngten Wiese die Alpenflora und bewunderte die satten, kräftigen Farben der kleinen Blumen. Sogar auf Nagelfluhfelsen hatten sich einige eingenistet. Ich schweifte, auf einer Bank sitzend, über die Rhythmen des Horizonts der markanten Bergwelt mit ihrer starken Nähe und der sich verlierenden Tiefe. Nach der Wanderung fuhr ich mit der Bahn zum See und liess mich mit dem Dampfer langsam von Station zu Station tragen. Die Uferlandschaften und Berge flitzten nicht einfach vorbei wie bei einer Autofahrt. Sie türmten sich vor mir majestätisch auf. Das Auge haftete an den Felsen, die in Millionen Jahren voran geschoben und gefaltet wurden. Ihre grandiosen Kreationen sind in unglaublich langen Jahren entstanden, der Mensch nicht anders.

In der Gegenwelt des Menschen von heute fühle ich mich nicht mehr so recht wohl. Die Arbeit hat sich vom Schaffen des Notwendigen abgelöst. Es wird viel mehr produziert, als notwendig wäre. Berge von Waren werden weggeworfen. Arbeit wird zum Mittel, um Überfluss und Wachstum zu schaffen. Viele Erfindungen dienen dem Konsumismus und dieser ruft beschleunigt nach immer mehr Produkten. Effizient muss produziert werden. Der Mensch ist gefordert. Er wird zum Aktivisten. Nach der Arbeitszeit kommt die Zeit, die der Mensch mit Events, Sport, Vergnügen und Spass totschlagen muss. Die Musse geht verloren. Der Mensch verlernt es zu verweilen. Kürzlich gönnte ich mir auf dem Vierwaldstättersee eine Lesefahrt und liess mich von der „Stadt Luzern“ in den Urnersee führen. Eine Gruppe von Männern sass in der Nähe. Da beklagte einer, wir sollten das Schiff stossen, damit wir endlich ankommen. Alle lachten. War es ein Witz? Es ging ihm zu langsam. Langsamkeit stört. Stille ist tödlich. Schweigen ist für jene langweilig, die sich gewöhnt sind dauernd zu reden. Ist ein freier Tag, der nicht mit Aktivitäten gefüllt ist, ein guter, ein nützlicher Tag?

Plötzlich kommt mir auf dem Dampfer der Schriftsteller Nadolny in den Sinn und der Titel seines Romans. Die Langsamkeit als Gegenentwurf zur Hektik interessiert mich. Ich denke darüber nach. Was geschieht, wenn ich langsam entspannt mich dem Thema zuwende? Der ganze Mensch fühlt sich angesprochen, Verstand und Phantasie, Schauen und Hören. Aha, da will einer also das Schiff stossen, damit es schneller geht. Wie kommt sein Denken auf eine so absurde Idee? Es verharrt offenbar im Modus der Effizienz. Er hat die Synapsen der Langsamkeit und der Geduld zu wenig geübt, dafür diejenigen des Aktivismus. Seine Beine zappeln. Warum fährt das Schiff so langsam?

Auch in der Nacht lässt mich das Thema Langsamkeit nicht los. Ich erwache gegen drei Uhr. Ich spüre, wie ich aus dem Traum in einen Wachtraum gerate und schon mitten im Text der neuen Kolumne bin. Ich entdecke die Langsamkeit meines Denkens und Kombinierens. Es fallen mir schöne Sätze ein. Wunderbar, wie es in mir kombiniert. Ich sollte die schönsten Bilder festhalten, aufschreiben. „Nein“, sage ich mir, „bleibe ruhig und entspannt, renne nicht aus dem Bett an den Schreibtisch, die Phantasie wird die Idee der Kolumne am Morgen wieder abtasten und neue Sätze erfinden, die denen im Wachtraum ähnlich sind, vielleicht nicht mehr so schön, aber doch so, dass sie vor der Vernunft bestehen.“

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