Alice, die Nichte der Oberin, die Unruhe ins Haus bringt
Das Kloster als Abbild der Welt
Dass sie einmal einen Film mit Nonnen machen würde, hätte sie selber nie geglaubt, sagte Léa Pool bei der Filmpremiere am Zürich Film Festival. Dass sie es dennoch machte, muss an der Persönlichkeit von Augustine liegen, welche geprägt ist von einer befreienden Leidenschaft für Musik, einer nachvollziehbaren Überzeugung für Humanismus und Religion und einem engagierten, klugen Feminismus, welcher beispielsweise für die Kirche eine Päpstin fordert. Musik sei das Gebet der Seele, meint Soeur Augustine, ihr Credo zusammenfassend, als sie das Kloster und die Schule vor Journalisten verteidigt. Die Geschichte folgt konkreten Ereignissen: Kirchliche Schulen werden verstaatlicht oder geschlossen. Die Klosterschule unter der Leitung der musikbegeisterten Oberin Soeur Augustine wehrt sich mit originellen Mitteln gegen die Schliessung, obwohl diese Schule mitnichten geprägt ist von klösterlicher Stille und Einkehr, sondern erfüllt wird von leidenschaftlichem Klavierspiel und begeistertem Gesang. Augustines Passion ist zunächst pure Leidenschaft für die Musik, erst im Fortgang wird es zur Leidenschaft, die Leiden schafft. Zusätzlich holt ihre Nichte Alice, die widerwillig in die Schule eintreten musste, musikalisch jedoch die Begabteste ist, zusammen mit ihrer Mutter ein dunkles, dramatisches und schmerzhaftes Stück von Augustines Vergangenheit in die Gegenwart zurück …
Immer wieder verblüfft Léa Pool, wie sie mit Kindern und Jugendlichen inszeniert. In «La Passion d’Augustine» hat sie es zudem mit jungen Pianistinnen und Sängerinnen zu tun. Die Musik spielt in diesem Drama eine Hauptrolle, was für die Regisseurin zur grossen Herausforderung wurde. Sie wollte in ihrem Film unbedingt authentische Musikszenen, weil erst so die Gefühle der jungen Darstellerinnen abgeholt werden konnten. Mit Emotionen spielt sie nämlich häufig und gern und scheut sich nicht, das Publikum auch mal zum Weinen zu bringen. Der Grat zwischen Emotionalität und Sentimentalität sei schmal, sagt sie, doch es mache ihr Spass, diesen zu gehen.
Mit Schwester Augustine steht im Zentrum des Films eine ausserordentliche Frau, eine Kämpferin für die Musik und die Autonomie der Frauen. Doch gleichzeitig ist «La Passion d’Augustine» ein Film, der den Widerstreit der Religion mit der Moderne auf das Feinste thematisiert. Jede Nonne der Gemeinschaft bringt ihre Argumente in Worten, und mehr noch in Gestik und Mimik, in die Auseinandersetzungen ein. Der Film dokumentiert so ein Kapitel kanadischer Zeitgeschichte, obwohl diese nicht wesentlich anders war als jene in der Schweiz. Er spielt in einer von Nonnen geführten Klosterschule, könnte aber ebenso, mit nur wenigen Anpassungen, in einem Internat mit Mönchen angesiedelt werden.
«La Passion d’Augustine» ist ein Film, der eine unglaubliche Kraft und Energie, aber auch ungewöhnliche Zärtlichkeit und Anteilnahme ausstrahlt, dank der Freiheit schaffenden Musik, dank dem intensiven Spiel der Darstellerinnen und der grossen Passion von Léa Pool. Sie weine zwar nicht mehr, wenn sie den Film anschaue, aber sei doch jedes Mal berührt und stolz, wenn sie ihn sich am Anfang jeder Vorstellung eine Viertelstunde anschaue. Wir aber dürfen lachen und weinen in diesem Film, der wunderbar schön und überzeugend gut ist.
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Nachbemerkung
Meine Begeisterung für diesen Film hat drei Gründe: Ersten erzählt Léa Pool ihre Geschichte authentisch und glaubhaft. Zweitens bildet der Film mit grosser Differenzierung und Transparenz Entwicklungsprozesse ab, die in den Kirchen und auch anderswo häufig ablaufen. Und drittens habe ich pesönlich Situationen, wie sie im Film gezeigt werden, in meiner Internatszeit in der Innerschweiz am eigenen Leib teils freudvoll, teils schmerzhaft erlebt.
Titelbild: Soeur Augustine, Oberin des Klosters und Musikpädagogin
Regie: Léa Pool, Produktion: 2015, Länge: 103 min, Verleih: Filmcoopi