StartseiteMagazinKulturEine Psychogeografie des Gehens

Eine Psychogeografie des Gehens

„SOLO WALKS“ – die vielseitige Eröffnungsausstellung im Bündner Kunstmuseum, Chur.

Die architektonische Gesamtanlage des neu eröffneten Bündner Kunstmuseums ruft geradezu nach einer Ausstellung mit dem Thema „GEHEN“. Nicht zum geringsten Teil ist es ja die Begehung der Räume, Gänge und Treppen, welche so faszinierende Erfahrungen schafft und vielseitige, zum Teil gar verblüffende Eindrücke hinterlässt. (Vergleiche „Die Kunst des Fügens“, den ersten Bericht hier aus Chur.)

Die Kuratoren der Ausstellung (Stephan Kunz, Juri Steiner, Stefan Zweifel) gehen in ihrer Konzeption aus von Alberto Giacomettis „L’homme qui marche“, 1960. Obschon eigentlich Teil der Esther Grether Privatsammlung, ist dieses Werk eine Art Schlüssel-Assoziation zu manchem, das mit „gehen“ und „Bündner Künstler – Bündner Kunst“ zusammenhängt. Was für eine glückliche Idee also, Giacomettis weltbekannten Wanderer mit ausgreifenden Schritten durch die einzigartigen Räume des Museum zu schicken! Auf eine Wanderung, die zum Inhalt nicht nur das Gehen hat, sondern auch das Finden, Wiederfinden und, hin und wieder auch das, das Suchen. Finden und suchen in sich selbst? Die Kuratoren denken an eine „Psychogeografie des Gehens“.

Subtile Wirkungen finden sich noch und noch in diesen zu gross angelegten Räumen. So kontrastiert die bekannte Fotografie von Henri Cartier-Bresson, den im Regen über die Strasse eilenden Alberto Giacometti zeigend, auf fast witzige Art mit dem „Homme, qui marche“. Zu diesem Paar gesellen sich auch der „Ahasver“ Ferdinand Hodlers und der „Wanderer“ von Ernst Ludwig Kirchner, der auch ahasverische Züge vermittelt. Zwei Kontrapunkte der Psychologie des Gehens, welche die Erfahrung aufs Neue bereichern.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ernst Ludwig Kirchner, Der Wanderer, 1922, Öl auf Leinwand, 90 x 151 cm. ©Aargauer Kunsthaus Aarau / Legat Dr. Othmar und Valerie Häuptli

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ferdinand Hodler, Ahasver, um 1910, Öl auf Leinwand, 104 x 81.5 cm. ©Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte, Winterthur

Wenn man auf die Fotografie des „Revolutionärs“ Joseph Beuys trifft, der den betrachtenden Augen auf ungestüme Weise fast drohend entgegenschreitet – ganz im Gegensatz zur Ruhelosigkeit Ahasvers und zur weit ausgreifenden Zielstrebigkeit von Giacomettis „Homme…“ – dann ist man allerdings erst einem Teil der Varianten dieses Themas begegnet. (Joseph Beuys, „La Rivoluzione Siamo Noi“, 1972.) Auch „Heimkehr“, 1907, von Marianne Werefkin gehört in dieses Segment des Themas „Gehen“. Der Mann mit seinem Sack auf dem Rücken will aus dem Dunkel der Fremde und des Fremden ins Licht der fernen Berge auf vorgezeichnetem Weg heimkehren… und wir ahnen beim Verfolgen des deutlich als hellblau-graues Band sich dorthin windenden Weges, wie unsicher es ist, dass er daheim auch ankommen wird.

Denn zu Schreitenden gehören auch Wege. Da sind ausgelegte Kupferplatten, die zum Schreiten einladen (Carl Andre, „Cubolt“, 1981), Roman Signer fotografiert in vier Bildern den unsicheren Weg aufs dünne Eis bis zum Einbrechen, und da ist auch der symbolische „steinige Weg“, den Richard Long mit Felsbrocken aus der alpinen Umgebung hinlegt.

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rechts: Roman Signer, Einbruch im Eis, 1985. Fotografie. Leihgabe des Künstlers. Links: Richard Long, Alpine Line, 1991. Buchser Basalt, 100 x 900 cm. ©Bündner Kunstmuseum Chur

Beim Gehen kommen die Gedanken. Robert Walser schreibt – neben vielem anderem, meist unlesbar Kleingekritzeltem, seinen berühmten „Spaziergang“, und die zahlreichen Fotos sind zu sehen, die der Freund und Mentor Carl Seelig von 1937-1954 vom Dichter aufgenommen hat, nebst einem spannenden Bildnis Walsers von Markus Raetz. „Les Rêveries du Promeneur Solitaire“ von Jean-JacquesRousseau weisen auf ein paar nicht alltäglich bekannte Seiten des Autors hin. Dass er auf seinen langen Gängen seine Gedanken auf Spielkarten skizziert hat, verblüfft schon ein wenig.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Francis Alÿs, Paradox of Praxis I (Sometimes Making Something Leads to Nothing), Documentation of an action, Mexico City, 1997. Video, 5 Min., Farbe, Ton.
Courtesy beim Künstler und bei der Galerie Peter Kilchmann, Zürich

Kann Gehen trotzdem auch sinnlos sein? Kann es auch Erfahrungen anstossen, die eher im Unbewussten schlummern? Da wäre an eine Zeitraffer-Simulation zu erinnern, die vor Jahren oder gar Jahrzehnten demonstrierte, wie Menschen auf einem stark belegten Platz sich verhalten, um nicht miteinander zusammen zu stossen. Samuel Beckett scheint das mit seiner Videosequenz aufzunehmen und gleichzeitig auf ein Quadrat und fünf (?) Figuren zu reduzieren („Quadrat I“, 1981). War diese Verbindung nicht Ursache und Absicht – es leuchtet dennoch ein… So erschütternd wie dennoch witzig ist eine zeitgemässe Paraphrase über den Sisyphos-Mythos von Francis Alÿs: Der riesige Eisblock muss nicht immer wieder neu den Berg hinaus geschoben werden – man ahnt, wie das ausgehen wird und erlebt es während fünf Minuten im Video.

Noch längst nicht alle Schätze von „Solo Walks“ sind hier ausgebreitet. Das wäre auch nicht möglich im Rahmen einer Ausstellungs-Berichterstattung. Integraler Bestandteil der Präsentation ist der Katalog. Hier sind Texte nicht simple Erläuterungen und nicht nur sachlich notwendige Informationen und Kommentare. Die Beiträge der Herausgeber dieses Katalogs, Stephan Kunz, Juri Steiner und Stefan Zweifel, gestalten ein Medium, welches auf beste Weise die Auseinandersetzung mit den Bildern und Skulpturen – das optische Erlebnis – mit dem gedanklichen Aufnehmen der mannigfachen Botschaften verbindet. Die hervorragende Textschlaufe, wie sie der Autor Stefan Zweifel nennt, „Wenn Wolken Worte wandeln“, enthält Textabschnitte von Goethe bis Thomas Bernhard (um nur zwei der rund 28 Autoren zu erwähnen). Sie bereichert und vertieft die Wirkung dieser so reichhaltigen wie intelligenten Ausstellung und schafft zusätzliche kontemplative Erlebnisse.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Solo Walks. Eine Galerie des Gehens. Katalog zur Eröffnungsausstellung im Bündner Kunstmuseum Chur. Herausgegeben von Stephan Kunz, Juri Steiner, Stefan Zweifel. Verlag Scheidegger und Spiess, Zürich

Die Ausstellung dauert bis am 6. November 2016

SOLO WALKS

Erster Bericht, „Die Kunst des Fügens“: hier

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