StartseiteMagazinKulturEine Seelenschau Europas

Eine Seelenschau Europas

Intim und doch von epischer Grösse: Regisseur Milo Rau schliesst mit dem Dok-Theaterstück “Empire” seine viel gelobte Europa-Trilogie ab.

„Wer spricht, wenn ich spreche, anderes als jene Konstellation, jener Körper, der in einem zufälligen Jahr in einem zufälligen Land von dem, was wir Geschichte nennen, überrascht wurde?“, fragt der Regisseur Milo Rau in einer Rede. Diese Frage liegt auch Raus Europa—Trilogie zugrunde: 13 Schauspielerinnen und Schauspieler aus 11 Ländern berichten in radikaler Schlichtheit von ihrem Leben und ihrer Arbeit – es ensteht eine Seelenschau Europas. Das Dok-Theaterstück “Empire”, mit dem Milo Rau und IIPM die seit 2014 weltweit tourende und vielfach ausgezeichnete Trilogie abschliessen, ist gegenwärtig als Uraufführung am Zürcher Theater-Spektakel zu sehen.

Nachdenken über die kulturellen Wurzeln (von links): Akillas Karazissis, Rami Khalaf, Maia Morgenstern und Ramo Ali.

In “Empire” schildern die Schauspieler Akillas Karazissis aus Griechenland und Rami Khalaf aus Syrien, der kurdisch-syrische Künstler Ramo Ali und die Schauspielerin Maia Morgenstern aus Rumänien, bekannt geworden unter anderem als Mutter Gottes in Mel Gibsons “The Passion of the Christ”, ihre Lebensgeschichte. Sie sitzen in einem kleinbürgerlichen Wohnzimmer mit Küche, Bett und Tisch, sprechen frontal in eine Kamera. Die Gesichter werden auf eine Grossleinwand über der Wohnstube projiziert.

Monatelang in Assads Gefängnisse

Karazissis und Morgenstern stehen als Repräsentanten des alten, traditionsreichen Europa, Khalaf und Ali als syrische Flüchtlinge, die nach Frankreich und Deutschland geflohen sind. Ohne Pause, ohne Tempowechsel und dennoch fesselnd erzählen die vier Schauspieler von Folter, Flucht, Trauer, Tod und Wiedergeburt. Besonders eindrücklich sind die Schilderungen der beiden syrischen Flüchtlinge. Khalaf flüchtete mit einem gefälschten rumänischen Pass nach Paris, wo er für ein syrisches Radio arbeitete und auf der Suche nach seinem verschollenen Bruder tausende Fotos ermorderter Opfer des syrischen Regimes durchforstete. Ali verbrachte mehrere Monate in Assads Gefängnisse, die Verhöre waren Folter, aber auch eine Art Psychoanalyse. In Deutschlad begann er seine Flüchtlingsgeschichte auf der Bühne zu erzählen.

In vielen gelungenen Momenten ist das Ringen der Darsteller mit dem Preisgeben der eigenen, erinnerten Geschichte schmerzhaft spürbar. Etwa, wenn Maia Morgenstern über ihren Vater urteilt: “Ich habe nie Zärtlichkeit für meinen Vater gespürt. Nie. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass er uns gegenüber oft zärtlich gewesen wäre.“ Wer von den Darstellern nicht gerade spricht, hört silll zu, wie in einer Therapierunde. Das Setting schafft eine grosse Konzentration, das sich auf die Zuschauer überträgt. Dafür gabs am Abend der Uraufführung stehende Ovationen. (Gespielt wird “Empire” bis 4. September in der Werft-Halle.)

Fünf Putzfrauen voller Humor

Lebensgeschichten ganz anderer Art konnte man im Stück “Clean City” der beiden griechischen Regisseure Anestis Azas und Prodromos Tsinikoris erleben. Angekündigt als Dok-Theaterperfomance, berichten fünf Frauen (alles Laiendarstellerinnen), die in Griechenland als Putzfrauen arbeiten, was es heisst, in Griechenland sauber zu machen. Es sind Imigrantinnen aus Südafrika, Bulgarien, Russland, den Philippinen und Albanien, die es aus unterschiedlichen Gründen nach Griechenland verschlagen hat.

Witzig und amüsant: die fünf selbstbewussten Putzfrauen. (Fotos: Theater-Spektakel)

Es ist eine witzige und amüsante Abrechnung mit der rechtsextremen Partei Morgenröte, die Griechenland von Migranten säubern will. Denn wer putzt in diesem Land, wenn die Migranten fehlen? Die fünf Frauen berichten selbstbewusst und ohne Bitterkeit über ihr Schicksal als Putzfrau, über ihre Familie, ihre Kinder, die ihr Glück teils ausserhalb Griechenlands suchen, reden ohne Umschweife von Ausbeutung und Rechtlosigkeit. Zwischendurch tanzen und singen sie als lebenslustige Frauen, die trotz der Widrigkeiten in Griechenland ein Stück Heimat gefunden haben. Ein grandioses Dok-Theater voller Humor und aktueller Anspielungen.

Mehr unter theaterspektakel.ch

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