StartseiteMagazinKulturElegie aus dem hohen Norden

Elegie aus dem hohen Norden

Nanook und Sedna sind das letzte Paar eines Volkes in Sibirien. Im Film «Ága» erzählt der Bulgare Milko Lazarov ihre wunderbare Geschichte, angelehnt an Robert J. Flaherty.

Zum Einstieg in den Film zupft Feodosia Ivanova, die in der Handlung die Rolle der Sedna übernimmt, in ihrer Tracht ein Lied auf der Maultrommel. Damit bringt sie uns in die Schwingung, die das Leben im ewigen Eis prägt und den Film des Bulgaren Milko Lazarov auszeichnet. Hektik gibt es hier keine, und Mensch und Tier verschwinden als kleine Wesen in der grossen Weite der Eiswüste. Ihre Tochter Ága ist ausgezogen, hat die Eltern zurückgelassen. Sednas Mann heisst Nanook (Mikhail Aprosimov), der Name ist nicht die einzige Referenz an den berühmten Dokumentarfilm «Nanook of the North» aus dem Jahr 1922 von Robert J. Flaherty. Die Geschichte des Kinos hat mit Dokumentarfilmen begonnen; mit «Ága» demonstriert ein Heutiger die Fiktion im Dokumentarischen und die Poesie des Wirklichen. Mit eindrücklichen Bildern und einem beschaulichen Rhythmus lädt er uns an einen der äussersten Punkte der Erde ein.

In der verschneiten nördlichen Wildnis träumen Nanook und Sedna davon, ihre seit einem Streit von ihnen getrennte Tochter Ága einmal wieder zu sehen. Sie selbst verbringen ein traditionelles Leben in ihrer Jurte, im Einklang mit der Natur und in stiller Liebe zueinander. Doch ihr Alltag beginnt sich zu verändern, langsam, aber unvermeidlich. Die Jagd wird immer schwieriger, die Tiere um sie herum sterben an unbekannten Krankheiten und das Eis schmilzt jedes Jahr etwas früher. Chena, Ágas Jugendfreund, besucht die Alten regelmässig und verbindet sie so mit ihrer Tochter. Als Sedna stirbt, macht Nanook sich auf und begibt sich auf eine lange Reise, um Ága zu finden. Mit eindrücklichen Bildern und einem beschaulichen Rhythmus nimmt der Film auch uns mit auf eine Reise von der Vergangenheit in die Zukunft.

Es soll nicht verschwiegen werden: Die verlangsamte Erzählweise kann eine Herausforderung darstellen für ein Publikum mit vornehmlich modernen Sehgewohnheiten. Doch weil der Film den Protagonisten viel Zeit einräumt, gibt er auch uns Raum, unsere eigenen Gedanken in die Geschichte einfliessen zu lassen.

Bildgeschichten, bei denen die Zeit stillsteht

Endlose Schneelandschaften, ein glasblauer Himmel, Ruhe oder leise Musik im Hintergrund: Hier, in den Eiswüsten des Nordens, leben die beiden Alten für sich und trotzen den Stürmen der Natur und ihrer Kargheit. Ága arbeitet seit Langem in einer Diamantmine. Denn das Dasein in der weissen Einsamkeit bot den Jungen keine Möglichkeit, mit Arbeiten zu überleben. Nanook hat früher Rentiere gejagt, doch dies wird immer schwieriger. Selbst einen Fisch zu fangen, ist ihm seit Tagen nicht mehr gelungen, erzählt er Sedna, während sie ihm die schweren Fellstiefel auszieht. Ihr Alltag folgt den immer gleichen Abläufen und Ritualen, man lebt noch immer in der Tradition der Vorfahren. Selbst der Frühling, sagt Nanook, kommt immer früher.

Der zweite Spielfilm des bulgarischen Regisseurs Milko Lazarov (*1967) kennt keine Eile, lebt von der Entschleunigung. Die Kamera nimmt sich alle Zeit, um uns eine Lebenswelt zu zeigen, die anachronistisch wirkt. Vor allem in den Aussenaufnahmen ist «Ága» ein Film der starken Bilder: Nanooks Fahrten mit dem Hundeschlitten durch die endlose Schneelandschaft, das Fischen in einem Loch, das er mit einer Hacke ins Eis schlägt, das Vorbereiten der Tierfallen. Kameramann Kaloyan Bozhilov hat grandiose, meist statische Einstellungen gefilmt.

Legenden und Träume, wie von einer anderen Welt

 Grosse Landschaften gegen kleine Menschen

Immer wieder erinnern sich die beiden an die Erzählungen und Legenden ihres Volkes. Einmal bittet Nanook seine Frau, ihm ein Lied vorzusingen. Ein anderes Mal schneidet sie ihm mit einem Messer den Bart. In einer Szene blicken wir minutenlang auf den kleinen Tisch mit Lampe, während wir hören, wie sich die beiden auf ihrem Lager unterhalten. Und dann, bereits schwer krank, erzählt Sedna einen Traum, der schliesslich Nanook und Ága zusammenbringen wird.

«Gestern hatte ich einen Traum. In dem Traum bin ich ein kleines Mädchen. Ich laufe über die offene Tundra. Dabei sehe ich einen nackten Säugling auf dem Eis spielen. Ein kleiner Junge, der Falkenfedern in den Händen hält. Er lacht, spielt und freut sich. Ich denke, ihm muss doch kalt sein, also hebe ich ihn auf und trage ihn nach Hause. Zuhause spielen wir lange zusammen. Dann werde ich müde und schlafe ein. Als ich aufwache, hat sich der Junge in einen grossen Eisbären verwandelt. Er hebt mich hoch. Sein Pelz gerät in meine Augen und ich kann nichts mehr sehen. Er bringt mich weit von Zuhause weg, in seinen Bau, und ich sage: „Nein, ich komme nicht mit.“ Dann verwandelt sich der Eisbär plötzlich in einen jungen Mann. Er nimmt mich in sein Zuhause mit. Es ist ein einfaches Loch in der Erde. Immer tiefer dringen wir in das Loch vor. Es ist herrlich. Alle Sterne des Himmels sind dort hineingefallen. Kein einziger steht mehr am Himmel. Sie scheinen hell und funkeln. Es ist alles so hell, dass es mich blendet. Ich vergesse alles: Wer ich bin, wo ich bin, woher ich komme, wer ich war. Dann wache ich auf.» – Am Schluss des Films stehen wir vor einem ähnlichen Loch wie im Traum, nämlich jenem der Diamantenmine.

Ein altes Paar angesichts der Vergänglichkeit

 Chena, der die Alten mit Ága verbindet

Selten hat ein Film auf so einfache und wunderschöne Weise von der tiefen Vertrautheit eines alten Paares erzählt. «Ága» handelt von der Liebe, der Tradition und einer Kultur, deren Existenz zunehmend gefährdet ist. Doch das Leben geht in anderer Form weiter. Über weite Strecken wirkt der Film fast dokumentarisch, doch mehrfach wird die beobachtende Ästhetik der Totalen mit Grossaufnahmen unterbrochen und mit Klängen der 5. Sinfonie von Gustav Mahler unterlegt. «Ága» handelt von der Vergänglichkeit. Nicht nur Nanook und Sedna beginnen zu verwittern, sondern ihre ganze Art zu leben, ist am Verschwinden. Und dies in einer Umwelt, die eindeutige Anzeichen hat, dass der Klimawandel in vollem Gang ist. Nichts ist ewig, sagt der Film in poetischen Bildern und wenigen Worten: der Mensch nicht, die Kultur nicht, ja nicht einmal das ewige Eis. Diese Erkenntnis kommt nicht mit Depressionen im Schlepptau, sondern mit Melancholie, dem Versuch, im Angesicht des Todes Haltung zu bewahren. Und Haltung hat der Film, was ihn zu einem Ausnahmewerk macht.

Regie: Milko Lazarov, Produktion: 2018, Länge: 96 min, Verleih: trigon-film

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