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Freiräume mit Absturzgefahr

Die 68er Ausstellung im Landesmuseum zeigt den Groove eines Jahrzehnts als begehbare Collage

Eine riesenhafte Rakete, eine Fliegerabwehr-Lenkwaffe Typus Bloodhound von der Art, wie die Schweizer Armee sie im Kalten Krieg mehr oder weniger klandestin in Mittelland-Wäldern bunkerte, bedroht über der hohen Treppe im neuen Anbau des Landesmuseums die Aufsteigenden, musikalisch begleitet von einem auf kleinem altem Bildschirm in einer Nische an der Treppe gezeigten Ausschnitt (Full Metall Jacket von Stanley Kubrick) in dem angehende GIs unterwegs nach Vietnam Haare lassen müssen, oder eher kahlgeschoren und gleichgemacht werden. Die Ausstellung Imagine 68 beginnt martialisch und politisch. Schräg hinter der Lenkwaffe (die Placierung sei „eine Meisterleistung des Landesmuseum“, so Juri Steiner) hängt ein Sigmar Polke von 1968: Das grosse Schimpftuchzeugt von der Lust des Machers, mit bekannt-banalen oder auch originell-wüsten Wörtern als Bürgerschreck zu provozieren.

Franz Gertsch, Vietnam, 1970. Hess Art Collection, Bern

Imagine 68. Das Spektakel der Revolution nennen Juri Steiner und Stefan Zweifel, zum dritten Mal Gastkuratoren im Landesmuseum, ihre Collage über eine Zeit, in der sie – Kinder von Achtundsechzigern – gerade geboren waren. Einiges jener vielfältigen sowohl politischen wie bunten Revolution, in Zürich als Globuskrawall in die Annalen eingegangen, deren Zündfunken Rockkonzerte (Rolling Stones, Jimi Hendrix) waren, haben sie mitbekommen – Stefan Zweifel als Sohn von engagierten Eltern im ersten freien Kindergarten, Juri Steiner als Jugendlicher im Nachhall bei der „Bewegig“ 1980.

Stefan Zweifel (links) und Juri Steiner vor dem ikonischen Bild «Freiheit» von Hugo Schumacher, 1971

Wo Juri Steiner und Stefan Zweifel draufsteht, ist Philosophie drin, diesmal bildet Guy Debords radikale Kulturkritik Die Gesellschaft des Spektakels, Bestseller und Auslöser des Pariser Mai 68 den theoretischen Rahmen. Mit praktischen Provokationen vor allem in der urbanen Öffentlichkeit von Paris wollten Debord und seine Gruppe der Situationistischen Internationalen starre Strukturen der Gesellschaft aufbrechen und die bürgerliche Welt aufmischen, Poesie sollte in den Alltag einfliessen.

68 ist eigentlich nur Chiffre für einen Zeitraum, der in den frühen 60er Jahren begann und mit der Ölkrise 1973 ein mehr oder minder abruptes Ende nahm (bis es 1980 mit der Jugendbewegung zu einem neuen, ebenfalls kreativen, wenn auch weniger globalen und weniger theoretischen Protest kam).

Eine Schweizer Napalmbombe kombiniert mit Varlins Gemälde «So lebt die Schweiz»

Die Älteren, die nah dabei waren, können durch die Collage der Kuratoren wandern und ihr Damals imaginieren, für mich wars eine Reise zurück in meine Jahre als junge Zeitungsschreiberin, die beim Sit-in auf den Tramschienen mitdemonstrierte und kurz darauf den Bericht über die Aktion in der Redaktion ablieferte – in Basel, nicht in Zürich, denn dort war man stolz auf psychologisch geschulte Polizisten.

Die Nachgeborenen, darunter viele Schulklassen, möchten sich – so hoffen die Kuratoren – dank der Schau ein eigenes, differenzierteres Bild der Zeit machen, die mit dem Siglum 68 immer wieder für alles mögliche herhalten muss. Der Rundgang führt vom schockierenden Kalten Krieg zu Beginn der Ausstellung über künstlerische Positionen und Manifestationen, vorbei an Wänden mit Flugblättern und Reportagefotos sowie einem ganzen Tisch voller Monitore mit Dokumentar- und Experimentierfilmen zu einer Pop-Art-Galerie sowie einem Raum wo man sich in Spielfilme und Konzertmitschnitte von damals vertiefen kann bis zum Ende eines Aufbruchs in eine bessere Welt ohne Hunger und Waffen.

Blick in die Ausstellung mit u.a. Alex Sadkowskys Grossem Kaninchen von 1968 und Robert Indianas Love Wall.

Diese Ende war einerseits die laufende Verwertung der Ideen für die Konsumindustrie, anderseits die Niederschlagung der Proteste durch brutale Polizeigewalt, drittens der Rückzug ins Private, der Absturz in die Drogensucht oder das Abdriften in den Terrorismus und der Marsch durch die Institutionen. Jede kritische Kunst wird letztlich von einem nach neuer Nahrung gierigen und unersättlichen Markt aufgesaugt und damit verharmlost. Das ist eine der wichtigen Aussagen, die am Ende bleibt.

Auch viele Frauen taten aktiv mit, der radikale Feminismus als Theorie machte gerade die Runde, auch der Kampf ums Frauenstimm- und Wahlrecht lief noch. Da die politisch bewegten Männer in der Frauenfrage jedoch nur einen Nebenwiderspruch auf dem Weg in die bessere Gesellschaft sahen, kam es, dass Frauen zwar mittheoretisierten, aber auch Kaffee kochten.

Mann darf! Valie Export: Filmstill aus «Tapp und Tastkino», 1968. © 2018, ProLitteris, Zürich

Der Auftritt der FBB, der Frauenbefreiungsbewegung brachte frischen Wind, auch dank medienwirksamer Auftritte gegen Sexismus und Patriarchat. Als wichtige Exponentin aus der Kunstszene begegnen wir Valie Export, die mit ihren radikalen Aktionen schockierte. Die US-Künstlerin Martha Rosler (zur Zeit Ausstellung im Museum für Gegenwartskunst, Basel) zeigte in Collagen, wie die Grausamkeit des Vietnamkriegs mit damals noch weitgehend unzensierten und bis heute entsetzenden Bildern dank Fernsehen mitten in die Stuben braver Bürger einbrachen.

Claes Oldenburg, Lipstick Ascending on Caterpillar Tracks. Modell aus dem Atelier für die Plastik vor der Yale Univerity 1969.

Das Landesmuseum hat mit seiner 68er Schau keinen Primeur gelandet, das Historische Museum in Bern zeigte bereits eine Ausstellung, der Basler Soziologe Ueli Mäder hat in seinem Buch 68 – was bleibt? viele 68er interviewt, die Medien besprachen das Jahr 1968 auf und ab. Daher entschieden sich Steiner und Zweifel in ihrer universalen Schau für Zürich als lokales Beispiel und weisen nach, dass es sich keineswegs um eine provinzielle Nachahmer-Bewegung handelte, sondern es sowohl in der Kunst als auch in der Politik ebenso heftige und kreative Aktionen gab wie in Paris oder Berlin.

Ein unsignierter Flyer, der heute nochmals neu zu verstehen ist: Donald for President.

Reportagefotografien von Willy Spiller vermitteln die unglaubliche Wucht, mit der Polizei und Demonstranten aneinandergerieten, erstmals gezeigte Dokumente aus dem Fundus des Advokaten Franz Schumacher, der damals die Verteidigung vieler Jugendlicher übernahm, machen sprachlos, wie forsch sich die Staatsmacht erlaubte, in einem Rechtsstaat aufzutreten. Die Papiere und Poster des Zürcher Manifests beleuchten dagegen, wie Philosophie, Literatur, Kunst und Politik gemeinsam und sehr phantasievoll neue Ziele ausmachten.

Imagine68. Das Spektakel der Revolution ist auch eine Kunstausstellung, sie erzählt wie der Zeitgeist von Künstlern umgesetzt wurde, beispielsweise Claes Oldenburgs Lippenstift-Panzer, den die beiden Kuratoren nicht bekamen, von dem jedoch jenes Modell ausgestellt ist, das Oldenburg persönlich den Zürchern auslieh. Oder Tinguelys Rotozaza-Maschine, die spektakulär Bierflaschen shreddert – ironischer Kommentar zur Zerstörung, oder auch die verstörende Bilderwelt von H.R. Giger. Klammer des Panoptikums mit Schreckensszenarien, bösem Humor und Utopien einer besseren Welt ist der Film vom berühmten Bed-in mit John Lennon und Yoko Ono – eine Friedensbotschaft, ebenso politisch wie kreativ, aber damals weitherum nicht verstanden.

Fotos: © R. Hänny

bis 20. Januar 2019
Weitere Informationen finden Sie hier:Imagine 68. Das Spektakel der Revolution

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