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Literarische Stiefmütterchen?

Zwei Männer, die Gedichte nicht heimlich lesen, sondern offen darüber schreiben

Man hört dann und wann, Gedichte seien etwas aus der Mode gekommen. Urs Frauchiger und Erwin Messmer jedoch sind nicht die einzigen, die eine andere Meinung vertreten. Kommt es davon, dass beide Musiker sind und deshalb eine besondere Gabe für Rhythmus, Metrik und Melodie auch der Sprache haben?

Ich schätze es, die Analysen und kommentierenden Gedanken der beiden Männer so unterschiedlichen Alters zu lesen. Urs Frauchiger (geb. 1936) hat ein aktives und bewegtes Leben als Cellist, Autor und kulturell in verschiedenen öffentlichen Funktionen tätig. Auch Erwin Messmer (geb. 1950) ist, neben seiner Tätigkeit als Organist während 31 Jahren, Autor, und Publizist.

Die beiden bringen sich in diesem Buch abwechselnd im ganzen 18 Gedichte näher: „Kennst du das…?“. Es sind viele Gedichte darunter, die ich bisher nicht (oder nur vage) kannte, und es sind einzelne meiner Lieblingsgedichte da – so zum Beispiel von Hölderlin „Hälfte des Lebens“, von Rilke „Du Nachbar Gott…“ (aus dem Stundenbuch), von Gottfried Keller „Die kleine Passion“ und von Andrea Maria Keller „garn“. Andere meiner zahlreichen Lieblingsgedichte vermisse ich in diesem 127 Seiten umfassenden schmalen, gepflegten Band; wie gerne hätte ich gelesen, was Urs Frauchiger oder Erwin Messmer darüber herausgefunden und geschrieben hätten! Das Buch hat aber durchaus die Eigenschaft, neue Lieblingsgedichte nahe zu bringen.

Erwin Messmer ist selber anerkannter Lyriker. Er spricht im Klappentext des Bändchens vom Gedicht als von „dieser dichtesten und anspruchsvollsten Sparte der Literatur, zugleich aber der literarischen Stiefmütterchen-Gattung unserer Zeit“. Er und sein Gesprächspartner Frauchiger beschränken sich nicht auf eine Art Schulbuch-Gedichtauswahl, wie sie beide noch, und andere mehr, seinerzeit im Deutschunterricht vielleicht gar auswendig haben lernen müssen. Sie erstrecken ihre Gedanken und Interpretationen auch auf Perlen der modernen und der zeitgenössischen Lyrik. Vereinzelt liest man in diesem persönlichen literarischen Gedankenaustausch Dichternamen, von denen man nie oder sehr selten hört.

Nicht immer mag man vielleicht mit den Kommentaren einig gehen. Doch sind sie deswegen nicht weniger sorgfältig, einfühlsam und recht oft sehr gründlich erarbeitet und legen weite Dimensionen offen. Es ist mit Gedichten wie mit der Musik: Nicht alle Leser und Hörer (ja, auch Gedichte soll man anhören, auch wenn man sie sich selber vorliest oder auswendig rezitiert) – nicht alle sehen, bemerken, empfinden hinter den Versen, den Zeilen, den Strophen dasselbe; nicht allen schliesst ein Gedicht dieselben Bezüge, Räume und Verknüpfungen auf. Was die Lektüre dieses Bändchens umso interessanter macht. Man darf es also ruhig so zur Hand nehmen, wie man ein Buch mit Gedichten zur Hand nimmt, sei es eine Anthologie oder eine Dichterausgabe, nämlich um darin zu blättern und das eine oder andere Liebgewordene wiederzufinden.

Es ist bestimmt nicht purer Zufall, dass beide Dialogpartner, wie erwähnt, auch anerkannte Musiker sind. Wie auch schon angeführt, hat Poesie sehr viel mit Musik zu tun. Beide Partner im Gespräch über Gedichte sind darüber hinaus aber auch intelligente Spurensucher, die eine Sache nicht auf sich beruhen lassen, ohne ihr nachzugehen. Sie spüren Zusammenhängen nach, die im Dialog mit dem Umfeld der Verse eine Rolle spielen, und bringen sie sich gegenseitig nahe, anregend, anschaulich formuliert, als wären es Briefe. Da wird es dann ganz selbstverständlich, dass man in bescheidener Scheu dennoch auch offen davon schreibt, was Verse, Bilder und Verknüpfungen für eine ganz persönliche Bedeutung haben.

Darum bereitet das Blättern in diesen so interessanten wie spannenden Seiten auch so viel Freude: Weil man nicht nur Bekanntem wiederbegegnet, sondern auch Neuem, sogar ganz Anderem, als man vielleicht unter alltäglichen Bedingungen so aufsuchen würde im unermesslich weiten Raum von Sprache, Literatur und Poesie; von Bildern, Klängen und Rhythmen.

OFFIZIN Zürich Verlag GmbH, 2015, ISBN 978-3-906276-5

Erwin Mesmer

Urs Frauchiger

 

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