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Schwierige Nähe

Die berührende Geschichte über eine schwierige Vater-Tochter-Beziehung und über andere gelungene und scheiternde Annäherungen.

Ein Frühlingsmorgen in der Kindheit daheim, weicher Rasen, frisches Gras und prickelnd kühler Tau – mit solch einem idyllischen Bild beginnt der Roman «Die Annäherung» von Anna Mitgutsch. Der davon träumt, ist die Hauptperson Theo, er erwacht auf dem Schlafzimmerboden und hat einen Schlaganfall erlitten. Meisterhaft schildert die Autorin, wie Theo eine Weile zwischen Traum und Realität hin- und herschwankt, bis er entsetzt merkt, dass er sich weder verständlich machen noch allein bewegen kann. Steht der 96-jährige nun an seinem Lebensende? Das Auf und Ab seines kommenden Lebensjahres wird in fünf Kapiteln geschildert, nach den Jahreszeiten von einem Winter bis zum nächsten benannt. Sie folgen dem Wechsel des Geschicks wie dem Rhythmus der Natur. Dabei erfahren wir die Handlung aus zwei Perspektiven: Über Theo erzählt die Autorin in der dritten Person, dazwischen hat seine Tochter Frieda in der ersten Person das Wort.

Anna Mitgutsch auf der Leipziger Buchmesse 2016 © Heike Huslage-Koch / commons.wikimedia.org

Theo wird im Krankenhaus gepflegt und hat dort genug Zeit, über sein Leben nachzudenken, denn gerade das Sprechen, das nie seine Stärke war, erlernt er nur sehr langsam wieder. «Du musst mich gar nicht verstehen», sagt er – in Gedanken – zu seiner hilflosen Ehefrau Berta, denn sie hatten nie Worte gebraucht, um sich verstehen.

Frieda hingegen hätte viel mehr Erzählungen und auch Zuwendung gebraucht, als Theo ihr je hätte geben können. Die einzige Tochter aus Theos erster Ehe zeichnet die Autorin als eingefleischte kratzbürstige Achtundsechzigerin, hartnäckig darauf bedacht, die Kriegsvergangenheit ihres Vaters aufzudecken – und zu diesem Thema kommt Theo kein Wort über die Lippen. Inzwischen ist sie pensioniert und fühlt sich ziemlich allein, aber auch jetzt noch misslingt fast jede Annäherung an ihren Vater.

Friedas Mutter Wilma ist früh gestorben. Diese Ehe war schwierig für Theo, auch dies ein Gegenstand seines Nachdenkens im Krankenbett. Es hatte auch damit zu tun, dass er nach einem Unfall nicht mehr den Beruf eines Uhrmachers ausüben konnte, der ihm der liebste gewesen wäre, sondern in einer Gärtnerei arbeitete. Mit Berta fühlte sich für ihn alles leicht und einfach an, ihr war an seiner Seite ebenfalls wohl, solange niemand anderes, Frieda zum Beispiel, Rechte einforderte. Nun jedoch verschlechtert sich Bertas Gesundheit mit der langsamen Rekonvaleszenz von Theo rapide. Sie kann auf keinen Fall für Theo allein sorgen, wenn er wieder nach Hause kommt.

Das Kapitel «Frühling» kündigt an, dass Theo noch einmal aufleben kann, einen zarten «Zweiten Frühling» erleben darf mit der jungen ukrainischen Pflegerin Ludmila, die als Schwarzarbeiterin in den Haushalt kommt und die Betreuung perfekt erledigt. Eigentlich eine zurückhaltende Person, die selten lächelt, wird sie durch ihre Fürsorglichkeit zu Theos grosser Freude im Alter. Er fühlt sich verwöhnt von ihr und öffnet sich ihr immer mehr, spricht mit ihr über seine Kriegsvergangenheit, was er der fordernden Frieda gegenüber nie getan hatte. Diese Annäherung zieht schnell eine Entfremdung nach sich: Berta fühlt sich hintangesetzt und kommt immer weniger gut mit Ludmila aus. Auch Frieda sieht das «Frühlingserwachen» ihres Vaters mit Misstrauen. In ihrer scharfen Art bedroht sie Ludmila mit einer Anzeige. Verschiedene Faktoren bewirken, dass Ludmila eines Tages in die Ukraine zurückfährt. Nun beginnen für Theo Herbst und sein letzter Winter.

Theo unternimmt noch einen verzweifelten Versuch, Ludmila zurückzugewinnen, und schickt im Kapitel «Herbst» Frieda auf eine Reise in die Ukraine, d.h. nach Galizien, in die Bukowina, wo auch er als Soldat gewesen war. So muss Frieda selbst anschauen, was sechzig Jahre nach Kriegsende aus diesen ehemals dicht jüdisch besiedelten Gebieten geworden ist. Sie kann ihren einzigen besten Freund Edgar dazu gewinnen, sie zu begleiten. Edgar hat jüdische Verwandte aus dieser Gegend. Damit ist es für ihn eine andersartige Reise in die Vergangenheit, und für die beiden Einzelgänger entsteht dabei eine unverhoffte vorsichtige Annäherung.

Die Autorin verfügt über eine zugleich feine und differenzierte, aber auch glasklare Sprache, gerade was die Beschreibung von Gefühlszuständen angeht, die inneren Dialoge von Theo und Frieda beispielsweise. So bleibt das Prekäre aller Beziehungen und die Verletzbarkeit der Personen stets spürbar, wodurch der Roman an Tiefe gewinnt und an Ehrlichkeit.

Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an österreichischen und amerikanischen Universitäten. Für ihr literarisches Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Solothurner Literaturpreis, den Würdigungspreis (Staatspreis) für Literatur der Republik Österreich und das Ehrendoktorat der Universität Salzburg. Seit den siebziger Jahren übersetzt sie Lyrik und verfasste bisher neun Romane, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden.

Anna Mitgutsch: Die Annäherung. Roman.
448 Seiten. Luchterhand Literaturverlag.
ISBN: 978-3-630-87470-8
eBook (epub) ISBN: 978-3-641-16005-0

 

 

 

 

 

 

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