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Suche nach Identität

Amanda Kernells Film «Sami» ist eine Liebeserklärung an die Samen im hohen Norden: ihr Volk, das unter Rassismus und Diskriminierung durch die Schweden litt und leidet.

Amanda Kernell, die Regisseurin des Spielfilms «Sami – A Tale from the North», wurde 1986 in Nordschweden geboren, ist eine Samin und hat vieles, was im Film gezeigt wird, selbst erlebt. Im Schweden der 1930er-Jahre: Das Mädchen Elle Marja und ihre Schwester Njenna stammen aus einer Familie von Rentierzüchtern. In der Schule sind sie deshalb Misshandlungen ausgesetzt und können sich nur an die schwedische Kultur anpassen, wenn sie Stück um Stück ihrer samischen Identität aufgeben. So löst sich Marja immer mehr von ihrer Familie, weil sie das Leben der andern kennenlernen und von Menschen ausserhalb akzeptiert werden möchte.

Anfang und Ende des Films spielen in der Gegenwart, mit Elle Marja als 78-jährige Grossmutter, der lange Hauptteil in der Vergangenheit, mit Elle Marja als 14-Jährige. Als Teenager lebt und leidet sie innerhalb der samischen Kultur und ihren Bräuchen, so dem «Joiken», einer urtümlichen Form unseres Jodels, sowie dem Leben in der Natur und mit den Rentieren. Gleichzeitig entwickelt sie sich wie jedes andere Mädchen zur Pubertierenden und macht erste, anfänglich zaghafte, bald schon stürmische Liebeserfahrungen. Parallel dazu ihre abenteuerliche Reise in die Stadt, angestachelt von unbändiger Neugier nach der andern Welt und der Kultur in den Bibliotheken von Uppsala.

Die Samen (veraltet Lappen) sind ein indigenes Volk im Norden Skandinaviens, die in Schweden, Norwegen und Finnland, von den Küsten des Weissen Meeres bis zum Barentsee in Russland siedeln. Ihre ursprüngliche Sprache gehört zur Familie der uralischen Sprache, ist mit dem Finnischen, Ungarischen und Samojedischen verwandt.

In Reih und Glied auf- und ausgestellt für die Herren des Landes 

Kolonisierung gibt es auch noch heute

Die Grossmutter Elle Marja wehrt sich mit allen Mitteln, an die Beerdigung ihrer Schwester in den Norden gefahren zu werden, doch sie sitzt im Auto ihres Sohnes, das sie dorthin bringt. Wälder ziehen vorüber, Seen und Berge. Sie sträubt sich mit wortloser Vehemenz gegen jeden Meter, der sie dem Ziel näherbringt. Dort weigert sie sich, von ihrer verstorbenen Schwester, die im Gewand und in der Aufmachung der Samen aufgebahrt in einer Kapelle liegt, Abschied zu nehmen. Die weisshaarige Dame hält Abstand zur Trauergemeinde. Ihr Protest, den Sohn und Enkel nicht verstehen, bleibt unversöhnlich, dunkel und mystisch. Sie kehrt in ihre Heimat im Süden zurück, traumatisiert und voll Wut. – Erst im Abgesang sozusagen geht die alte Elle Marja zu ihrer Schwester Njenna, die im Sarg liegt, und bittet sie um Verzeihung.

Ihre Familie, vor allem die Älteren, sagt die Filmemacherin Amanda Kernell, hätte stets hässlich über die Samen geredet; dabei seien sie doch selber Samen. Sie fragte sich, wie man wirklich zu einer neuen Person werden, eine neue Identität annehmen kann und gleichzeitig sämtliche Verbindungen zur Herkunft kappen kann oder muss. Auf diese Frage versucht der Film, Antworten zu geben.

Elle Marja als gegen ihr eigenes Volk protestierende Alte 

Diskreter, doch wirksamer Rassismus

1921 gründete Schweden als erstes europäisches Land ein Staatliches Institut für Rassenbiologie, wo Wissenschaftler die Rassenlehre vorantrieben, die später von den Nationalsozialisten in ihre Herrenmenschenideologie integriert wurde. Noch heute lagern Tausende von Bildern, welche die Minderwertigkeit der Samen belegen sollen, in den Bibliothekskellern der Universität Uppsala, wohin Samen gelegentlich kommen, um Fotografien ihrer Vorfahren zu suchen. Elegant geglättet, zeigt der Film die unterschwellig brutale Wirklichkeit des Rassismus bei den Untersuchungen und Vermessungen der samischen Kinder.

Amanda Kernell führte für ihren Film viele Gespräche mit Verwandten und Zeitzeugen, um dem Ursprung dieses Selbsthasses, dieser Verleugnung der eigenen Wurzeln, auf die Spur zu kommen. Aus dieser Ambivalenz bezieht «Sami – The Tale from the North» seine sinnliche, poetische und letztlich politische Kraft. «Die Kolonisierung ist nicht zu Ende», meint Kernell. In der Schule lernen schwedische Kinder einen einzigen Satz über die Samen: Sie seien «ein Volk, das in vier Ländern lebt». Noch immer gibt es blutige Konflikte mit Landbesitzern, über deren Gebiet die Rentierherden ziehen. Stolperfallen werden gegenseitig ausgelegt, und die Selbstmordrate der Indigenen ist erschreckend hoch.

Mehr als auf die Folklore, wollte Kernell den Blick auf die Dinge richten, welche die junge Elle Marja interessieren: den schönen Jungen mit dem offenen Hemdkragen, die Tanzfeste unter Lampions, den Seifenduft im Haus des Freundes in der Stadt, das hochgesteckte Haar de Lehrerin. Doch um den wirklichen Eintritt in die schwedische Gesellschaft zu erkaufen, hatte die Samin harte Entscheide zu treffen. Die dafür nötige Härte gegenüber sich selbst lässt einen die entschlossene Miene des jungen Mädchens so schnell nicht vergessen. Als die Laiendarstellerin nach der Lektüre des Drehbuchs für die Rolle zusagte, meinte sie, dass sie nicht weinen werde, wie es im Skript verlangt wird. Und als Kernell ihr anbot, dass man sich mit künstlichen Tränen behelfen könne, meinte sie: Nein, sie lüge nicht, «wenn es wehtut, soll es wehtun.»

Reihenuntersuchung durch das staatliche Institut für Rassenbiologie

Aus einem Interview mit der Regisseurin Amanda Kernell

Erinnern Sie sich noch, wann Sie sich zum ersten Mal ihrer samischen Herkunft bewusst wurden?

Ich habe einen samischen Vater und eine schwedische Mutter, und mein Vater ist in der samischen Gemeinde sehr aktiv. Er stammt aus einer Familie von Rentierhütern. Wir üben diesen Beruf nicht aus, aber alle meine Cousins und anderen Verwandten tun es. Ich wuchs also in mir drin mit beiden Seiten auf, man könnte sagen, im Zentrum des Konflikts. Als Heranwachsende begleitete ich meine Rentiere hütenden Cousins zum Rentierschlachten, zugleich studierte ich in der Schule Sprachen. Mein Vater findet es sehr wichtig, darüber zu berichten. Vermutlich war das einer der Gründe, warum ich diesen Film machen wollte. Viele Samen wachsen auf, ohne zu wissen, woher ihre Verwandten oder ihre Eltern stammen. Für mich trifft das nicht zu. Dieser Film ist eine Liebeserklärung an die Älteren meiner Familie und ihre Generation.

Der Film steht auf sehr schöne Weise jenseits zeitlicher Einordnung, man vergisst, dass die Hälfte des Films historisch ist. Das hilft, darin einzutauchen.

Alles in dem Film ist Erinnerung, doch Erinnerungen können sehr präsent sein. Wie Trauer. Man erinnert sich an Details aus der Natur, an das Gesicht des ersten Jungen, mit dem man geschlafen hat, daran, wie es sich anfühlte, als man sich das erste Mal auf dem Wasser treiben liess, oder an das erste Mal, als man Rentiere gehütet hat.

Stammen diese Erinnerungen aus Gesprächen mit Samen während der Recherchen?

Ja, und natürlich aus meiner eigenen Biografie. Ich war selbst ein samischer Teenager, der von zu Hause weglief und gelogen hat. Doch vieles stammt aus Interviews. Ich habe mit Leuten gesprochen, die weggegangen und nach Stockholm gezogen sind, die ihren Kindern kein Samisch beigebracht haben und nicht wollten, dass sie eine samische Tracht tragen. Manche haben ihre Identität komplett gewechselt und können nicht darüber reden. Ich fragte sie, was sie in der Schule am tiefsten verletzt habe. Ein Same erzählte mir, dass ihn ein Mitschüler ins Ohr geschnitten habe, so wie man ein Kalb markiert. Also taucht das im Film auf. Zur Zeit meiner Grosseltern durften Samen nicht mit Messer und Gabel essen, weil man glaubte, dass sie so Geschmack an der Zivilisation bekämen, für die ihr Verstand jedoch nicht genug entwickelt und auf dem Stand von Kindern geblieben sei. Das glaubte man wirklich! Vor Kurzem ist ein Schulbuch herausgekommen, in dem von schwedischen Rassemerkmalen die Rede ist. Ich frage mich, was das mit dieser Generation macht, zu lesen, dass man auf einem niedrigeren Entwicklungsstand sei als die andern. Welches Bild soll man da von sich bekommen?

Interview von Emily Buder mit Amanda Kernell

Titelbild: «Sami» ist die Geschichte der jungen und der alten Elle Marja

Regie: Amanda Kernell, Produktion: 2016, Länge: 110 min, Verleih: Xenixfilm

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