StartseiteMagazinGesellschaftVor 50 Jahren: Aufbruch der Jugend

Vor 50 Jahren: Aufbruch der Jugend

Was die Schweiz in den Jahren vor und nach 1968 bewegte, zeigt das Historische Museum Bern und begibt sich auf den schwankenden Boden der Zeitgeschichte.

Zuerst erkannten die Gerontologen und Soziologen, dass diejenigen, die in den Jahren um 1968 jung gewesen waren, allmählich ins Rentenalter treten würden und infolgedessen die Strukturen für alte Menschen neu gestaltet werden müssten. Nun, fast fünfzig Jahre nach dem Aufbruch in neue Gesellschaftsformen, finden sich die Achtundsechziger im Museum wieder. Wie fühlt man sich, wenn der eigene Aufbruch, das Niederreissen einengender Strukturen als museumswürdig gilt? Wir können uns selbst testen, unsere Erinnerungen mit der Schau im Historischen Museum Bern vergleichen, uns fragen, was sich damals ändern sollte, wo wir heute stehen.

Erinnern Sie sich: Die jungen 68er hatten gerufen: «Trau keinem über 30!», – die Besucherinnen und Besucher dieser Ausstellung sollten den ca. 70-jährigen Zeitzeugen zuhören. Diese Interviews mit sechzehn Frauen und Männern, alle mit ihrer eigenen, individuellen Geschichte, gehören zum spannendsten in diesen Räumen. Es macht Spass zu hören, wie temperamentvoll die alt gewordenen 68er erzählen. Heinz Daepp spricht davon, wie die Proteste auf allen Ebenen alte Überzeugungen ins Wanken gebracht haben – «. . . aber wir haben diese Verunsicherung auch genossen . . .»  Die in Schweden geborene Ewa Johnsson Frey erzählt: «Als ich hierherkam, sagte man mir, dass die Frauen kein Stimmrecht hätten. Ich dachte, das wäre ein Witz.» Als Befreiung in vielerlei Hinsicht beschreiben eigentlich alle Befragten diese Jahre, jeder aus seiner Perspektive.

Gewiss, der VW-Bus war damals Kult – aber nie so poliert, ohne Beule oder Rost!
© Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto Christine Moor

Der Kampf für das Frauenstimmrecht ist wohl eines der wichtigsten Themen, das diese Ausstellung aufgreift. 1960 noch war die letzte Abstimmung darüber abgelehnt worden. 1971 setzten sich dann auch genug Männer dafür ein, so dass ein weiteres Scheitern abgewendet war. Aber wird uns nicht gerade jetzt vorgeführt, wie wenig gesichert die Gleichstellung von Frau und Mann in der Gesellschaft auch heute noch ist? Eine Zeitzeugin zitiert Claude Lévy-Strauss: «Der Feminismus ist die wichtigste Errungenschaft des 20. Jahrhunderts», – immer noch ist das teilweise Zukunftsmusik! Viele Frauen empfanden die Versammlungen, an denen sie sich damals trafen, als Fest, an dem sie sich wohlfühlten, sie entdeckten das Vergnügen, zusammen etwas zu bewegen. Dazu gehörte auch die Sexualität, die Pille war gerade auf den Markt gekommen.

Die Kleider von damals sehen auch heute nicht wirklich «alt» aus. © Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto Christine Moor

Ein weiteres Thema der 68er sind Rauschmittel, von Haschisch bis Heroin, die man in diesen Jahren offener und freizügiger zu nehmen begann und die in den kommenden Jahrzehnten auch in den Schweizer Städten zu grossem Elend führten. Und noch heute tun sich die Behörden schwer zu unterscheiden, was hilfreich oder zumindest unschädlich ist und was zu Sucht verleitet. Vor wenigen Wochen wurde eine Studie der Berner Universität zur kontrollierten Abgabe von Cannabis vom zuständigen Bundesamt verboten.

Beim Gang durch die Ausstellung merkt die Besucherin, dass eigentlich alle Lebensbereiche von den 68er Umbrüchen betroffen sind. In Politik und Gesellschaft waren es neue Formen der Diskussion, sit-inteach-in, Strassentheater zum Beispiel. – Fragte sich «das Establishment» damals in Bern, ob nun auch da die Revolution begänne? Aus heutiger Sicht ist das weit hergeholt. Gezeigt wird die Vietcong-Fahne, die mutige Kletterer am 22. Juni 1968 über Nacht auf dem Turm des Berner Münsters angebracht hatten, um dem «Vietnam-Tag» mit einer Demo gegen den Krieg Nachdruck zu verleihen. Oder im gleichen Jahr die Globus-Krawalle in Zürich, die im Juni 1970 zum 1. AJZ im Lindenhofbunker führten. Ein Bild zeigt einen VW-Bus und «The Black Lions», eine Rockergruppe ohne politische Ambitionen, die überall mitmachten, wo «action» war, wie eine beteiligte Zeitzeugin erzählt.

Vielen jungen Leuten ging es damals darum, neue Verhaltens- und Lebensformen ausprobieren. Musik – dröhnende Rockmusik – diente dabei als Fluchtmittel aus den gesellschaftlichen Zwängen. Aus dem kulturellen Aufbruch entstand die Pop-Kultur, aber auch «Untergrundkulturen», die sich in alternativen Räumen entfalteten. Und typisch für die 68er: Politik und Privates gingen ineinander über. Aus heutiger Sicht ist das Jahr 1968 der Beginn des Individualismus.

Zeitzeugen berichten.  © Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto Christine Moor

Die Ereignisse und Aufbrüche von 1968 in Strukturen zu bringen, gleicht der Quadratur des Kreises, das macht auch die Gestaltung dieser Ausstellung problematisch. Vieles geht unter oder kann nur angedeutet werden, und für eine kritische Distanz sind fünfzig Jahre wohl zu kurz. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass in der Schweiz keine gefestigte, allgemein akzeptierte Erinnerungskultur zu 1968 existiert, im Gegenteil: Auch heute noch gibt es Kreise, die kritisieren, was 1968 ins Rollen kam.

Die Ausstellung umfasst die späten 60er und die frühen 70er Jahre. Als Quellen dienen neben den Zeitzeugen Ausschnitte aus dem Fernsehen (Tagesschau), Soundtracks sowie Bild- und Videomaterial der entstehenden Pop-Kultur. Ergänzend kommentieren drei Professoren, Damir Skenderovic (Fribourg), Brigitte Studer (Bern) und Jakob Tanner (Zürich) aus heutiger Perspektive. Die Ausstellung richtet sich, wie Kurator Fabian Furter erklärt, einerseits an junge Menschen, denen das Phänomen 1968 erklärt werden soll; anderseits sollen die Zeitzeugen Gelegenheit erhalten, in ihrem Thema zu schwelgen. Zum Nachdenken regt ein Besuch zweifellos an, zu viele Themen werden angerissen, können aber in einem solchen Rahmen nur angetippt werden.

Im letzten Raum «Was bleibt?» äussert sich Franco Cavalli so: «Vieles wurde erkannt und angestossen, konnte aber in den letzten 50 Jahren nicht verwirklicht werden.» Hat etwa der Schwung der 68er einen Gegenschwung ausgelöst? Wie steht es mit der Diskussionskultur? Ist die heutige Schweiz, wie es an der Wand heisst, freier – egoistischer – bunter?

Dieses knallige Pink war die neue Protestfarbe. © Bernisches Historisches Museum, Bern. Foto Christine Moor

«1968 Schweiz» ist noch bis 17. Juni 2018 im Bernischen Historischen Museum zu sehen.
Rahmenprogramm

Zur Ausstellung ist ein Buch erschienen, herausgegeben von vier 68ern:
Samuel Geiser, Bernhard Giger, Rita Jost, Heidi Kronenberg,
Revolte Rausch Razzien.
 Neunzehn 68er blicken zurück.
Stämpfli Verlag Bern, 2017; 128 Seiten
ISBN 978-3-7272-7926-3

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