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Zu Besuch bei Hildegard Keller

Wo liegt das Besondere in der Biografie eines Menschen? Das interessiert Hildegard Keller und das will sie in ihren Filmen herausarbeiten.

Für mein erstes Gespräch war ich nicht bei Hildegard Keller zu Besuch, wir trafen uns stattdessen in einer ruhigen Ecke des Hauptbahnhofs Bern. Als ich den vorgegebenen Titel erwähnte, lachte sie und meinte, ein Bahnhof passe gut zu ihr, denn in ihrem Leben liefe nie etwas über eine einzige Schiene.

In der Ostschweiz aufgewachsen, studierte Hildegard Keller Germanistik und Hispanistik und spezialisierte sich auf das Mittelalter. Nach ihrer Habilitation lehrte sie sechs Jahre an der Universität Zürich, erhielt 2008 auch einen Lehrstuhl in Bloomington Indiana / USA, hat daneben andere anspruchsvolle Aufgaben: Sie wirkt unter anderem als Jurorin beim Bachmann-Preis ORF/3SAT mit, und im Schweizer Fernsehen sehen wir sie als Kritikerin im Literaturclub. Daneben schreibt sie Bücher, übersetzt, führt ihre Arbeiten als Performerin selbst auf und dreht Filme mit dem Ziel, «Fundstücke» bekannt zu machen. Sie hat sich 2017 mit ihrer Firma Bloomlight Productions selbstständig gemacht.

Seniorweb:  Ihre Vielseitigkeit fällt wohl allen auf, die sich mit Ihnen beschäftigen, ich sehe darin eines Ihrer persönlichen Charakteristika.

Hildegard Keller: Je mehr ich von der Welt erfahre, desto mehr Facetten entfalten sich in mir. Ich stamme aus bildungsfernen Verhältnissen und musste mich erst einmal durch den akademischen Wald hindurch arbeiten. Das akademische Curriculum fördert leider eher Spezialisten, weniger Universalisten.

Gerade das Mittelalter bietet einen breiten Fächer an Forschungsgebieten, war das der Reiz für Sie?

Ja, Mediävistik konnte ich damals bei Professor Haas studieren, der viele von uns mit seinem Enthusiasmus buchstäblich mitriss. Die inhaltliche Breite des Faches gab mir maximale Freiheiten, meine Interessen zu verwirklichen. In mir steckt etwas von der Wesensart der Ziege: Am liebsten suche ich mir die spannendsten Forschungsgebiete an den Rändern des Faches. – Um dahin zu kommen, scheue ich auch «Klettertouren» nicht.

Hildegard Keller; Foto: Marcel Baumann

Nach Zwischenstationen erhielten Sie einen Lehrstuhl in Amerika – auch dort auf ungewöhnlichem Weg, nämlich nicht auf dem üblichen Stufenweg der Universität, sondern durch Excellence-Hire, d.h. das Berufungsgremium war von Ihren Kompetenzen so überzeugt, dass das übliche Auswahlverfahren wegfiel. – Was bedeuten Ihnen diese Jahre?

Es waren schöne, fruchtbare, bereichernde Jahre. Ich konnte in grosser Freiheit lehren, forschen und Neuland entdecken. – Es bedeutete allerdings, dass ich mindestens 7 ½ Monate im Jahr in Bloomington engagiert war, während mein Mann in Zürich lebte. Für grosse Projekte konnte ich aber auch ein unterrichtfreies Jahr nehmen. Fast gleichzeitig mit dieser Berufung kamen andere wichtige Angebote aus Europa, beispielsweise Engagements am österreichischen und später Schweizer Fernsehen. Amerika bedeutet für mich persönlich eine «Neuerfindung» meiner selbst als Unternehmerin und Filmproduzentin.

Ihre «Fundstücke» wurden Ihr Arbeitsfeld . . .

Immer mehr beschäftigte ich mich mit kreativen und sehr oft performativen Formen der Forschung, und heute sage ich: Das war für mich eine notwendige Entwicklung: In jeder Lebensphase entfalten sich neue Möglichkeiten, jedenfalls war und ist es bei mir so, Ausprobieren und Experimentieren sind der Schlüssel zu diesem Whatever Comes Next. So heisst ja auch mein Dokumentarfilm über Annemarie Mahler. Hier lernte ich, rücksichtsvoll ein gelebtes Leben zu portraitieren.

Mein Interesse an Identität – was macht mich zu der, die ich bin? – hat mich zur Biografiearbeit geführt. Ich porträtiere Menschen, leite sie aber auch zu kreativem Schreiben oder kleinen Inszenierungen aus ihrer Lebensgeschichte an. Wer sich in die eigene Biografie vertieft, bemüht sich um Antworten auf berühmte Fragen aus Philosophie und Religion auf den Grund: woher komme ich? Wer bin ich und wo stehe ich? Was ist mein Ziel?

Das hat Sie zum Medium Film geführt, wo Sie Leben und Werk eines Menschen in Wort, Bild und Ton darstellen können. Die erste grosse Arbeit war das Portrait der Künstlerin Annemarie Mahler-Ettinger, 1938 als Kind einer jüdischen Familie aus Wien geflohen, in Amerika heimisch geworden. Als 86-jährige erzählt sie ganz unprätentiös und zugleich ungemein fesselnd. «Whatever Comes Next» – ein beeindruckender Film.

Der Anstoss zu meinem neuen Film «Brunngasse 8» kam von einer Frau, die eben diesen Film gesehen hatte und den Kontakt zu einer italienischen Dichterin und Biologin herstellen wollte. Schliesslich gingen wir zu der fast hundertjährigen Silvana Lattmann und bei diesem Besuch entdeckte ich die grossartige Konstellation der uralten Bewohnerin eines uralten Hauses. Deshalb geht es in diesem neuen Film um die Geschichte der Brunngasse 8: Das Haus stammt aus dem 14. Jahrhundert, und dort sind spätmittelalterliche Wandmalereien erhalten, die zu einem dunklen Kapitel in der Geschichte der Stadt Zürich führen, nämlich zu einem Pogrom gegen die jüdischen Zürcher.

Silvana Lattmann erzählt über ihr Leben mit den Wandmalereien an der Brunngasse 8.
Foto: Hildegard Keller

Wie gehen Sie an die Gestaltung eines Filmes heran?

Zuerst habe ich eine Idee; vielleicht ist es ein Anstoss von aussen, der in mir eine Resonanz findet, oder eine Intuition. Wenn der Funke überspringt, bricht der Vulkan der Ideen aus. Dann habe ich ein fulminantes Arbeitstempo, dann folgt die harte Arbeit des Storytelling: Was erzählt der Film?. Bei der Umsetzung in Bild, Sprache und Ton folge ich Impulsen, ich lasse mich leiten. – Wer seine Sinne öffnet, bekommt Signale von überall. – Bei den Dreharbeiten hat der Kameramann eine wichtige Funktion – gemeinsam mit ihm setze ich die Ideen ins bewegte Bild um. Zum Kameramann brauche ich wirklich einen vertrauensvollen, ja freundschaftlichen Kontakt. Seit fünf Jahren arbeite ich mit Carter Ross zusammen. Wir begannen in Bloomington zusammenzuarbeiten, heute lebt er in Los Angeles und ich wieder ganz in Zürich.

Gibt es schon ein nächstes Projekt, das Sie reizt?

Ja. Es handelt vom richtigen Zeitpunkt und ist deshalb noch ein Geheimnis.

Das muss wohl wie ein guter Wein noch gären. – Bei meiner Vorbereitung auf dieses Gespräch bin ich auf immer neue Themenkreise gestossen, neben Hildegard von Bingen, Meister Eckart und dem chinesischen Philosophen Zhangzhou auch auf den Schweizer Friedrich Glauser, der als Autor von Krimis bekannt geworden ist.

Friedrich Glauser ist ein grossartiger Autor, ein zutiefst spiritueller Mensch. Da er auf die Drogenschiene geriet, wurde er von seinem eigenen Vater in die psychiatrische Klinik gesteckt. In seinen autobiografischen Notizen zeigen sich Lebenseinsicht und Menschenkenntnis. Ich mag autobiografische Schriften aus allen Zeiten, Kulturen und sozialen Schichten. Man erkennt, wer der Mensch ist, der sich schreibend zeigt. Schreiben gilt in Psychotherapie, Philosophie und Kunst nicht nur als ein Weg zum Bewusstsein, sondern auch zum Unbewussten, zu grösseren Sphären bis hin zum Einbruch des Numinosen. Experimente mit Bewusstseinserweiterung durch künstlerische Strategien, aber auch durch Meditation und Drogen führten ja unter anderem zum Surrealismus, zur écriture automatique, und da kommen wir zu so bekannten Künstlern wie André Breton, Max Ernst oder später Jack Kerouac.

Mit Ihrer Begabung, das Einzigartige aus einer Person herauszulocken, werden Sie noch Stoff für viele Filme finden. – Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch.

Webseite von Hildegard Keller / Bloomlight Productions GmbH

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