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Suche nach dem verpassten Sohn

Mit dem Spielfilm «Longing» schuf der israelische Regisseur Savi Gabizon ein vieldeutiges Gleichnis über die Sehnsucht nach dem Sohn und nach dem Vatersein.

Der erfolgreiche Geschäftsmann Ariel wird von seiner früheren Lebensgefährtin Ronit 20 Jahre nach ihrer Trennung überraschend zum Essen eingeladen. Dabei erfährt er, dass sie damals schwanger war und einen wunderbaren Jungen zur Welt gebracht hatte. Doch nicht genug: Der Junge ist vor zwei Wochen, 19-jährig, tödlich verunglückt. Jetzt versucht der Mann, der nie Vater werden wollte und nun Vater eines Jungen geworden ist, diesen aber nie getroffen hat, mit seiner unerwarteten Rolle fertig zu werden. Der Film «Longing» erforscht auf intensive und berührende Art das Vater- und das Elternsein.

Ariel (l) mit Gideon auf dem Friedhof

Auf dem Weg zur Vaterschaft

«Longing» ist ein Film, der einen berührt, gelegentlich auch verblüfft, wenn er unsere Lebenserfahrungen zum Schwingen bringt. Die Geschichte ist reich und vielschichtig, humorvoll, auch wenn ihr ernster Ansatz dies nicht vermuten lässt, denn sie ist voller Überraschungen. Der Regisseur versetzt uns mit Feingefühl und Geschick in die Lage eines Mannes über fünfzig, alleinstehend und erfolgreich im Beruf. Die grosse Liebe von einst hat er wohl mit Arbeit kompensiert, doch jetzt konfrontiert sie ihn mit der Nachricht ihres gemeinsamen Sohnes Adam und seiner Vaterschaft. Ohne viel Umschweife nimmt uns der Film mit zu einem speziellen Vaterwerden. Jetzt will Ariel wissen, wer dieser Sohn war. Es beginnt der Identifikationsprozess eines Vaters mit seinem Kind, was bald schon nichts Kritisches mehr zulässt, der eigene Sohn kann nur der Beste gewesen sein. Mit jeder Filmminute wird er mehr und heftiger der Vater, und Adam verliert bald einmal vom Glanze seiner Grossartigkeit.

Als erste Handlung auf den Spuren seines Sohnes, fährt Ariel auf den Friedhof. Danach geht die Spurensuche weiter. Ronit Hilu tritt wieder vermehrt in sein Leben, weiter Adams Pflegevater Eli Hilu sowie sein bester Freund, seine beste Freundin und deren Eltern. Er sei ein grosser Pianospieler gewesen, hört Ariel, aber auch von der Schule geflogen, weil er in die Französischlehrerin verknallt war und dies öffentlich zelebrierte. Beim Besuch des Friedhofs lernt er Gideon kennen, dessen 18-jährige Tochter Amigail aus dem Leben geschieden ist. Die beiden sind in einer vergleichbaren Situation, vermissen jemand, fühlen sich einander nah. Es gibt wohl nur wenige Filme, die so berührend und tiefsinnig erzählen, was Elternsein bedeutet, völlig unbeschwert und heiter.

Ariels Traum: Vater und Sohn vor der Geliebten Yael

Hochzeit zwischen zwei Toten

Gegen Ende des Filmes, auf den die Geschichte hinsteuert, gibt es ein fast surreales Event: eine Hochzeit zwischen zwei Toten, von Adam und Amigail. Von diesem Schluss aus kann der Film auch gesehen werden. Diese neue, spirituelle Dimension begründet Savi Gabizon in einer Anmerkung zum Film: «Als meine Freundin von einer Reise aus Singapur zurückkehrte, erzählte sie mir, wie sie an einer Tao-Zeremonie teilgenommen habe. Im Taoismus gibt es die Tradition, dass beim Tod eines Mädchens der Wunsch besteht, ihm einen ebenfalls verstorbenen Jungen zu finden, damit die beiden jungen Menschen zusammen ein besseres Leben haben mögen, wo immer sie sich auch befinden. Sie erzählte mir davon, und ich sagte mir: Wenn du eine Konstellation hinbekommst, die eine solche Hochzeit, eine Geisterhochzeit wie diese, möglich macht und so geschehen lassen kann, und dies ganz rational erscheint für eine westlich geprägte Gesellschaft, so könnte das etwas ganz Aufregendes und Interessantes werden.» Zur Traum-Szene mit Yael auf dem Kirchturm und zur Hochzeitsszene am Schluss schreibt Walter Ruggle, der Direktor von trigon-film: «Szenisch arbeitet der Filmemacher viel mit Gegenlicht, wodurch er das Ephemere wie die Transzendenz des Irdischen unterstreicht. Einmal entführt er uns in einen Traum, ein anderes Mal überrascht er uns mit einer Szenerie, die sich in ihr Gegenteil wandelt, als wären alle Figuren Spielende in Kulissen, zwei Seiten desselben Lebens.» Dies alles unterstützt durch Assaf Sudry (Kamera), Yoram Hazan (Musik) und Tali Haltr Shenkar (Montage).

Ariel besucht die ehemalige Klasse von Adam und setzt sich an dessen Platz.

Weitere Anmerkungen von Savi Gabizon zum Film 

Eltern

Wenn man sich anschickt, einen Film übers Elternsein zu drehen und dabei kein Kind für die Eltern da ist, dann haben wir Laborbedingungen, in denen man arbeiten und ganz bestimmte Aspekte des Elternzustands betrachten kann, die normalerweise nicht untersucht werden. Zum Beispiel egoistisches, selbstbezogenes Elternsein. Wenn man um seiner selbst willen oder um anzugeben Eltern ist. Eine andere Variante wäre die, dass man das Elternsein vermisst, verpasst hat. Und genau das war für mich ein Ausgangspunkt.

Ein paar Millimeter

Der wirkliche Anfang für diese Geschichte war mein Sohn, der 18 Jahre alt war, als ich am Projekt zu arbeiten begann. Er fing damals an, Fussball zu spielen, ich sass auf der Bank und schaute ihm beim Spielen zu. Jedes Mal, wenn er am Ball war, bemerkte ich bei mir, dass mein Bein sich ein wenig bewegte, nur ein paar wenige Millimeter. Ich denke, dass die ganze Idee zu diesem Film in diesen wenigen Millimetern steckt und mit ihnen begann. Es ist eine Geschichte, in der es um Identifikation geht und darum, was es bedeutet, Eltern zu sein.

Beziehung zu Kindern

Vor etwa fünf Jahren, zur Zeit meiner Scheidung und in einer Phase der suchenden Seele, gab es ein paar Fragen, die mich verfolgten: Wie wird mein Leben fortan ausschauen? Was wird aus der Beziehung, die ich zu meinen Kindern habe? Ich fragte mich auch, was für ein Vater ich denn bis anhin war und zu welchem Vater ich mich entwickeln würde. Es war dieser Zustand, aus dem heraus ich das Drehbuch zu «Longing» zu schreiben begann. Dieser Film ist für mich ein Weg, das Elternsein auszuloten.

Existenzielle Fragen

Ich bin mehr an Menschen interessiert und weniger an nationalen politischen Problemen. Es gibt in meinem Land Probleme, deretwegen ich zu allen möglichen Demonstrationen gehe, aber es interessiert mich nicht, diese Fragen in meinem Schreiben und in meinen Filmen aufzugreifen, auch wenn dadurch mein Engagement als Künstler in einem Besatzerstaat kleiner erscheint. Ich will über Menschen schreiben, die mit existenziellen Fragen zu kämpfen haben.

Ariel mit Adamas ehemaliger Freundin Lilia am Ort, wo er verunglückte.

Savi Gabizon, der Drehbuchautor und Regisseur von «Longing»

Savi Gabizon, 1960 in Haifa geboren, studierte an der Universität in Tel Aviv Film und Fernsehen und realisierte zwischen 1990 und 2004 drei erfolgreiche Filme. «Longing», sein jüngster Film, wurde 2017 fertiggestellt und feierte am Filmfestival von Jerusalem seine Uraufführung, bevor er am Filmfestival von Venedig gezeigt wurde. An beiden Wettbewerben wurde es mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Gabizon zählt zu den bekanntesten und führenden Filmschaffenden in Israel, seine Filme waren nebst Publikumshits Favoriten bei der Filmkritik, was sich auch darin niederschlug, dass sie bei den nationalen Filmpreisen erfolgreich waren. Mit den letzten drei Filmen gewannen sie 24 israelische Academy Awards, darunter bester Film, beste Regie und bestes Drehbuch.

Interessante Vergleiche zu ähnlichen Themen bieten folgende Filme: «Like Father Like Sun»von Hirokazu Kore-eda, «Tokyo Family» von Yoji Yamada und «Le fils de l’autre» von Lorraine Lévy.

Regie: Savi Gabizon, Produktion: 2017, Länge: 96 min, Verleih: trigon-film

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